Wiedersehen in den Highlands - Roman
konnte sich nur mit größter Mühe beherrschen, an Henrys Schulter zu schluchzen oder mit der Wahrheit herauszuplatzen, als Agnes sie fragte:
»Was hat er denn angestellt, Liebes? Warum ist er so gekränkt?«
Zur Antwort hatte Betsy nur die Hände gehoben, die Augen weit aufgerissen und den Kopf geschüttelt, als wäre der Grund für Toms fürchterliche Laune ihr selbst ebenso rätselhaft wie allen anderen.
Am Sonntagmorgen ging Tom Brodie in aller Frühe und allein zur Kirche in Hayes.
Obwohl die mannshohen Schneeverwehungen etwas geschrumpft waren, türmten sie sich immer noch hoch genug, um den Weg für Wagen unpassierbar zu machen. Agnes wurde von Henry und Betsy gestützt, damit sie nicht ausrutschte und sich die Knochen brach, während Janet ein paar Schritte vorauslief, um sie vor vereisten Stellen zu warnen. Erst als sie die alte Zollstraße erreichten, fühlte sich Agnes sicher genug, um Arm in Arm mit ihrer Tochter zu gehen, und Henry und Betsy, die sich ein Stück zurückfallen ließen, hatten etwas Zeit allein.
»Komm schon, Betsy«, meinte Henry leise, »sag mir, was dich bedrückt!«
»Nichts. Es geht mir gut.«
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Henry. »Was war zwischen dir und Tom an Heiligabend?«
»Nichts, ich schwöre es.«
»Lüg mich nicht an, Betsy. Hat er sich dir aufgezwungen?«
»Nein«, antwortete Betsy, denn das war die Wahrheit.
»Tom sagt alle möglichen Dinge, wenn er getrunken hat«, erwiderte Henry. »Dinge, die er nicht wirklich so meint.«
»Gott!«, entfuhr es Betsy. »Gibt es kein anderes Thema als Tom?«
»Daddys Tod hat ihn sehr mitgenommen.«
»Er war auch Ihr Daddy.«
»Ja«, sagte Henry. »Aber für Tom ist es etwas anderes.«
»Warum müssen Sie ihn in Schutz nehmen?«
»Weil er ... ich weiß nicht ... so zerbrechlich ist.«
»Zerbrechlich!«, rief Betsy so laut, dass Agnes sich zu ihr umwandte. Sie dämpfte die Stimme. »Wenn er so zerbrechlich ist, wie Sie sagen, warum setzt er dann immer seinen Kopf durch? Und warum verfällt er, wenn er seinen Willen ein Mal nicht bekommt, in eine düstere Stimmung, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen?«
»Ich weiß es nicht«, räumte Henry ein. »Das ist das Rätselhafte.«
»Wenn Sie mich fragen«, sagte Betsy, »ist er egoistisch und verzogen.«
»Von ihm wurde zu viel verlangt ... zu viel erwartet.«
»Ist es das, was seinem Daddy das Herz gebrochen hat?«
»Oh, das ist hart, Betsy, sehr hart.«
Sie beschleunigte ihre Schritte und ging ein paar Meter voran, aber Henry hatte sie bald eingeholt. Er hakte sie bei sich unter, und Betsy besaß nicht die Frechheit, sich ihm zu widersetzen. Außerdem war die Kirche jetzt schon zu sehen, und noch andere Leute waren auf der Straße unterwegs. In ein paar Minuten würden sie zu der sonntäglichen Gemeinde stoßen, und sie, Betsy, würde für eine Weile sicher vor Henrys bohrenden Fragen sein.
»Mädchen«, sagte er, »würdest du mir bitte eine einzige aufrichtige Antwort geben, und dann werde ich dich nicht länger mit meiner Neugier belästigen?«
»Eine Antwort, Henry, nicht mehr.«
»Hat Tom dich gebeten, ihn zu heiraten?«
Betsy war von der Frage völlig überrumpelt. » Mich zu heiraten? Tom denkt nicht daran, mich zu heiraten.«
»Hast du ihn abgewiesen?«
»Nein«, sagte Betsy.
»Tom hat dich nicht gebeten, ihn zu heiraten?«
» Nein .«
»Nun ja.« Henry tätschelte ihren Arm. »Nun ja, wenn es nicht das ist ...«
»Es muss etwas anderes sein«, erwiderte Betsy und rief ihrem Daddy einen Gruß zu, der neben der Friedhofspforte wartete, um ihr ein hübsches kleines Schmuckstück als vorgezogenes Neujahrsgeschenk zu überreichen.
Die Fryes und all ihre Dienstboten waren angetreten, um sich an Mr. Turbots düsterer Verabschiedung des alten Jahres zu erbauen, und trotz des Wetters war die kleine Kirche in Hayes fast zum Bersten gefüllt. Peters Bruder David war aus Edinburgh nach Hause gekommen, und seine Schwestern und ihre Ehemänner und Kinder füllten die Bänke der Anwaltsfamilie. Eine Handvoll Dienstmädchen und Hausburschen hingegen, die sichtlich verärgert darüber waren, Schulter an Schulter mit dem Bauernvolk sitzen zu müssen, nahmen auf der Empore Platz.
Tom war dem großen Gedränge zuvorgekommen und hatte sich früh genug eingefunden, um sich einen Platz genau hinter der Loge des Grundbesitzers zu sichern. Er musste unbedingt mit Peter reden und konnte nicht mehr bis zum nächsten Treffen des Junggesellen-Clubs
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