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Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Titel: Wiedersehen in Hannesford Court - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sie weitersprach.
    »Nach dem Tod des Professors war es meine Aufgabe, seine Sachen zu packen, alle Kleidungsstücke und seine Papiere. Persönliche Dinge. Es war sehr traurig. Dabei fand ich auch ein in grünes Leder gebundenes Notizbuch.«
    Ich wusste, welches sie meinte. Der Professor hatte es immer bei sich getragen.
    »Wissen Sie noch? Darin notierte er Dinge über Schmetterlinge und so weiter. Aber das Buch, das ich fand, war leer. Es muss ein Ersatz gewesen sein. Da wurde mir klar, dass ich das andere Notizbuch noch gar nicht eingepackt hatte. Wir sollten alle Sachen an seinen Sohn schicken, und das Notizbucherschien mir wichtig. Ich meine, Sie würden wohl auch lieber das Notizbuch Ihres Vaters zurückbekommen als seine Hemden.«
    Mir kam der ebenso flüchtige wie unangebrachte Gedanke, was wohl aus den Hemden meines Vaters geworden war. Vermutlich hatte meine Mutter sie dem Gärtner geschenkt.
    »Und? Wo haben Sie es gefunden?«
    »Ich habe es nicht gefunden.« Der Gedanke schien sie immer noch zu beunruhigen. »Wir haben es nie gefunden. Ich bin davon ausgegangen, dass er es irgendwo liegen gelassen hat, das kam häufiger vor. Also habe ich die Dienstboten gebeten, danach Ausschau zu halten, aber es ist nie wieder aufgetaucht. Nach ein oder zwei Tagen haben wir seine Sachen losgeschickt. Ich sagte mir, das Notizbuch würde schon wieder auftauchen. Und habe es danach wohl vergessen.«
    »Sie haben es also nie wieder gesehen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, es hat etwas zu bedeuten?«
    Mir fiel ein, was Mrs Woodward mir erzählt hatte. Das Notizbuch des Professors … das Notizbuch, in dem er alles niedergeschrieben hat. Doch es hatte sicher keinen Sinn, schlafende Hunde zu wecken …
    »Wer weiß? Man konnte uns damals leicht schockieren. Viele Dinge, die furchtbar oder skandalös erschienen, sind heute vollkommen banal.«
    Sie nickte, und ich machte mich auf den Weg, froh über meine Zurückhaltung. Was vorbei war, war vorbei, auch die Missetaten der Vergangenheit. Vergeltung war etwas für Sir Robert und die Politiker und alle, die Deutschland zur Kasse bitten wollten . Ich hingegen wollte das nicht.
    Allerdings ist es nicht so einfach, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie neigt dazu, wie durch eine undichte Leitung in die Gegenwart zu sickern. Warum sonst wachte ich nachts in der Stille schweißbedeckt auf? Und warum war ichin Hannesford? Nur weil ich mich in London einsam gefühlt hatte? Weil ich Gesellschaft brauchte, um Weihnachten zu überstehen? Ich war mir nicht sicher. Doch was immer mich dazu getrieben hatte, hierher zurückzukommen, es war nicht der Wunsch gewesen, alles zu vergessen.

A ls die letzten Sommergäste in Hannesford eingetroffen waren, hatte sich das gute Wetter gefestigt, und wo immer man hinschaute, waren leuchtende, kühne, kompromisslose Farben zu sehen. Die Feinheiten des Frühlings waren längst vergessen. Doch ich war viel zu beschäftigt, um sie richtig zu genießen. Ein volles Haus bedeutete auch mehr Arbeit.
    Was Harry betraf, war ich zunächst nur verwirrt. In seiner Gegenwart hatte ich mich nie gehemmt gefühlt. Ich hatte nicht weiter über ihn nachgedacht, ihn einfach als Bestandteil meiner Aufgabe gesehen, das Leben in Hannesford zu organisieren. Auf einmal aber schienen sich unsere Augen überall zu begegnen. Und ich merkte, dass ich seinem Blick nicht standhalten konnte. Ich wandte mich ab, wobei mich meine roten Wangen unweigerlich verrieten.
    Doch in dem ganzen Durcheinander verbarg sich auch etwas Süßes. Das Haus füllte sich mit Menschen, mit dem Lärm seiner Freunde. Tippy Hibbert und die Everson-Brüder, die Flinders-Mädchen, Julian Trevelyan – lauter Menschen, die mich auf ihre höfliche Art und Weise kaum bemerkten. Doch selbst als die Feierlichkeiten auf dem Höhepunkt waren, suchten Harrys Augen bisweilen meine, und ich spürte eine leise freudige Erregung, weil man mich nicht vergessen hatte.
    Ich war aber auch nervös. In jedem Sommer flossen kraftvolle Srömungen durch Hannesford. Manchmal fühlte ich mich leichtsinnig und überließ mich ihnen nur allzu gern; doch es gab auch Zeiten – wenn die Sonne aufging und das Tageslicht zaghaft den Rasen unter meinem Fenster berührte –, in denen die Morgenfrische die Welt der Stansburys schattenhaft, gefährlich und unruhig erscheinen ließ. An einem solchen Tag war ich allein mit Tom unten am See. Es war einklarer, süß duftender Morgen, und ich spürte, wie der Frieden dieses

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