Wiedersehen in Hannesford Court - Roman
Anne gewohnt, bevor sie Hannesford verließ. Von diesen Zimmern aus blickte man durch kleine Fenster über die Auffahrt und die Rasenflächen bis zum See und den bewaldeten Hängen dahinter.
Ich schaute zuerst in das alte Schulzimmer. Alles sah unverändert aus, ordentlich, die kleinen Pulte und Stühle mit Tüchern verhängt, die sie vor Staub schützten. Es war sehr kalt. Und als ich einen Schritt hinein machte, dachte ich sofort an Harry.
Ich hatte fast vergessen, dass Harry als Erwachsener oft in dieses Schulzimmer gegangen war. Er flüchtete sich hierher, um indische Zigarren zu rauchen, die sein Vater verabscheute – der Geruch war wirklich grauenhaft. Ich hatte immer vermutet,dass es nur Schau gewesen war – oder aber er suchte nach einer willkommenen Entschuldigung, um seinem Vater zu entfliehen. Als ich an jenem Tag in der Tür des Schulzimmers stand, schien der schale Rauch dieser Zigarren noch in der Luft zu hängen, so als hätte Harry ein oder zwei Monate zuvor hier geraucht. Es war sonderbar: Harrys Schlafzimmer, das man so sorgfältig konserviert hatte, sagte mir gar nichts. Dort hatte ich mich wie in einem Museum gefühlt. Doch in diesem leeren Zimmer, in dem er sich nur gelegentlich aufgehalten hatte und das noch schwach nach schlechtem Tabak roch, wirkte Harry plötzlich real und greifbar.
Aber ich war nicht wegen des Schulzimmers gekommen. Mein Ziel befand sich am anderen Ende des Korridors und war verschlossen. Es war das Zimmer, in dem Sir Roberts fehlgeleiteter jüngerer Bruder in den Kindertagen der Fotografie seine Dunkelkammer eingerichtet hatte.
Die Suche nach dem Schlüssel führte mich in wärmere Regionen und schließlich zu Lady Stansbury, die ihn der Haushälterin zufolge an ihrem Schlüsselbund trug. Ich fand meine Gastgeberin in dem Raum, der Reggies Schlafzimmer werden sollte, wo sie gerade den Klingelzug untersuchte.
»Wir müssen ihn durch einen längeren ersetzen. Anne hat daran gedacht. Reggie in seinem Rollstuhl, Sie wissen schon …«
Sie schaute mich überrascht an, als ich sie um den Schlüssel bat.
»Die alte Dunkelkammer? Ja, natürlich. Die hatte ich ganz vergessen. Ich hätte schon früher daran denken sollen. Ich habe sie zwischen Ihren Besuchen immer abgeschlossen, weil ich sie als Ihren privaten Raum betrachtet habe.«
Das hatte ich nicht gewusst und fand es seltsam anrührend. Natürlich musste Lady Stansbury nicht erfahren, dass ich mich nach jedem Besuch bemüht hatte, alle Spuren meiner Arbeit zu verwischen.
Sie führte mich zu ihrem Schreibtisch, der jetzt in einem kleinen Raum mit hoher Decke im hinteren Teil des Hauses stand. Als sie den Schlüssel vom Ring nahm, fiel mein Blick auf einen Brief, der offen auf dem Tisch lag. Die Handschrift kam mir irgendwie bekannt vor.
»Von Oliver«, sagte sie leise. »Susans Oliver. Er hat ihn in dem Jahr, bevor er starb, geschrieben …« Sie nahm das Blatt Papier in die Hand. »Ehrlich gesagt, lese ich ihn oft. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht sollte ich ihn wegräumen, außer Reichweite.«
Sie reichte mir den Brief. Es war ein Beileidsschreiben, kurz nach Harrys Tod verfasst. Mir kam der Gedanke, dass Oliver Eastwells Handschrift sein Wesen widerspiegelte: Er schrieb in großen, verschlungenen Buchstaben, primitiv und ein wenig übertrieben. Während man Harrys Handschrift mit einem kalligraphierten Sonett vergleichen konnte, erinnerte Olivers Gekritzel an ein witziges Gedicht. Ich dachte unwillkürlich, wie wenig ein solcher Brief zu ihm passte. In seinen ersten fünfundzwanzig Lebensjahren hatte Oliver sich durchs Leben gelacht, vom Rotwein beflügelt. Dann plötzlich war er gezwungen gewesen, solche Briefe zu schreiben.
Und er hatte es gut gemacht. Mehr noch, der Brief war wunderschön, jede Zeile durchdrungen von Ehrlichkeit und tiefem Gefühl. Es schien, als hätte der dicke, alberne Oliver, den zu kennen ich geglaubt hatte, inmitten des Geschützdonners eine neue Identität gefunden.
… Ich hatte immer gehofft, dass wir – Harry, ich und Julian Trevelyan, Tippy Hibbert, die Eversons und all die anderen Jungs –, wenn all das vorbei ist, nach Hannesford zurückkehren und uns überlegen würden, wie wir die Welt zu einem besseren Ort machen können. Aber Harry war immer das Herz der Gruppe. Unser Verstand und unser Geist. Ich weiß nicht, wie wir Übrigen ohne ihn funktionieren sollen. Ich habe nur die Hoffnung, dass wir dennoch etwas aus unserem Leben machen, mit dem wir Harry ein Denkmal setzen
Weitere Kostenlose Bücher