Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wiedersehen in Harry's Bar

Wiedersehen in Harry's Bar

Titel: Wiedersehen in Harry's Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Schreiber
Vom Netzwerk:
nicht nur Hunger, sondern eine Beschwerde hinsichtlich der Gesamtsituation ausdrückte. In der Nacht hatte ich an einem seltsam geformten bayerischen Schokokeks geknabbert, der in einem lila Plastikei steckte, und ihn mit zwei Büchsen eines klebrig-süßen deutschen Energiegesöffs runtergespült, aber wann hatte ich zum letzten Mal etwas Richtiges gegessen?
    Was ist mit deinen Eltern und Annie? Glaubst du, dass denen jemand irgendetwas zu essen gibt?
    Meine Gedanken kehrten wieder zurück zu meiner Familie, die irgendwo eingesperrt war, und schon schämte ich mich dafür, dass ich an mich und meine Probleme gedachthatte. Ich hoffte, dass man sie wenigstens ab und zu aufs Klo ließ. Besonders Annie wurde immer ganz wild, wenn sie es anhalten musste, wie zum Beispiel bei langen Autofahrten.
    Der Gedanke an die drei, aber besonders an Annie, rief in mir eine unbändige Wut auf Armitage und das, was er getan hatte, hervor. Was für ein Drecksack tat einem kleinen Mädchen so etwas an? Ganze vierundzwanzig Stunden währten mein Plattenvertrag mit George Armitage und meine absolute Superberühmtheit. Jetzt war das alles weg, hatte letztendlich nie existiert – und ich war froh, dass er tot war.
    Es sei denn, dass sein Tod meiner Familie schadete.
    Nicht daran denken, schlug die Stimme in meinem Kopf vor.
    Nur wollte diese Technik in letzter Zeit auch nicht mehr so recht funktionieren. Stattdessen stand ich auf einmal vor dem verschlossenen Schrank mit den ganzen Waffen, die da glänzend und wie das schwarze Grinsen des Krieges in mehreren Reihen nebeneinander standen.
    Dann ging endlich die Tür auf, und der Typ kam wieder raus.
    *
    »Vielleicht sollten wir uns miteinander bekannt machen.« Er wischte sich die Hände an einem Handtuch ab, spreizte die Finger und ballte sie dann zu großen, muskulösen Fäusten, die aussahen, als hätten sie doppelt so viele Knöchel und Adern als normale Hände. »Ich weiß, wer du bist, aber du kennst mich noch nicht. Ich heiße nicht Kaya. Ich weiß nicht mal, wer dieser Kaya ist.«
    »Entschuldigung«, sagte ich, »aber solche Förmlichkeitensind mir gerade ziemlich egal. Ich bin nur deshalb mit Gobi hierhergekommen, weil sie meinte, dass wir vielleicht meine –«
    »Deine Familie«, fiel er mir ins Wort. »Genau. Du sprichst von Phillip und Julie Stormaire und deiner zwölfjährigen Schwester Annie, letzte bekannte Adresse Cedar Terrace 115, East Norwalk, Connecticut, derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Sie hat es mir gesagt.«
    »Gobi?«
    »Zusane.«
    Ich nickte. Gobi hieß eigentlich Zusane, aber das war, bevor sie den Namen ihrer toten Schwester Gobija angenommen und sich selbst nach New York eingeschmuggelt hatte, um sich an einem gewissenlosen menschlichen Krebsgeschwür namens Santiago zu rächen. Das alles kam mir schon so lange her vor, dass es auch einem komplett anderen Typen passiert sein könnte.
    »Ich bin Erich Schöneweiß.« Er griff in seine Tasche, zog den Schlüssel heraus, den ich in Gobis Tasche gefunden hatte, und drehte ihn zwischen den Fingern. »Du solltest wissen, dass es absolut gefährlich war, Zusane hierherzubringen.« Er sah mich an. »Außerdem hast du ihr damit wahrscheinlich das Leben gerettet.«
    »Bedanken können Sie sich später.«
    »Ich stelle bereits Nachforschungen über den Verbleib deiner Familie an. Gut möglich, dass etwas Nützliches dabei herauskommt, vielleicht aber auch nicht. Das werden wir schon bald wissen.«
    »Wie bald?«
    »In ein bis zwei Stunden.«
    »Und was dann?«
    »Das entscheidest du«, antwortete er, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie farblos seine Augen waren, ein fast silbernes Grauweiß wie die Eisschicht, die sich auf altem Schnee bildet, das Eis, das einem, wenn man im falschen Winkel durchbricht, böse in den Fußknöchel schneiden kann. »Ich bitte dich nur darum, dass du, falls du die Behörden informieren möchtest, größtmögliche Diskretion hinsichtlich meiner Mitwirkung walten lässt.«
    »Ich soll Ihren Namen nicht erwähnen, verstanden. Wieso war es so gefährlich, Gobi hierherzubringen?«
    Erich zögerte, als würde er seine Worte sorgfältig abwägen. Ehe er eine Antwort formulieren konnte, ging die Tür hinter uns auf, und Gobi kam aus dem Zimmer.
    Es war mir schleierhaft, wie gut sie schon wieder aussah. Sie trug ein einfaches weißes Flanellnachthemd und Hausschuhe, die aufgetürmten Haare waren in ein Handtuch gewickelt. Die Farbe in ihren Wangen war

Weitere Kostenlose Bücher