Wiedersehen in Stormy Meadows
uns allen ein. Dann hebt sie ihr Glas. »Ich finde, wir sollten miteinander anstoßen.« Sie wartet, bis auch wir unsere Gläser heben. »Auf die, die nicht bei uns sein können.«
»Auf Daddy«, sagt Cas leise. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Ich sehe auf das Glas in meiner Hand. Auf den dunkelroten Wein darin. Rob und ich haben bei jeder neuen Flasche, die wir öffneten, einen Toast ausgesprochen. »Auf uns«, sagte er dann immer.
Ich proste Laura und Cassie zu. »Auf uns.«
Es ist schon spät, als wir mit dem Essen fertig sind. Cas ist satt und von dem Wein so schläfrig, dass sie gähnt und ins Bett gehen möchte. Ich hole das kleine Päckchen für sie hervor und reiche es ihr zaghaft.
»Ich hab was für dich.«
»Aber es ist doch noch gar nicht Weihnachten«, sagt sie verwirrt.
»Ich möchte es dir aber gerne heute schon geben.«
Ich sehe Cas die Verlegenheit an, als sie das Geschenk annimmt. Ich kaufe ihr sonst nie irgendwelche Überraschungsgeschenke, und darum fällt es ihr schwer, zu verstehen, was wohl der Anlass sein könnte. Zumal ihr Geburtstag ja nicht lange her ist und sie da mehr als reich beschenkt wurde. Unsicher schaut sie kurz zu Laura, dann entfernt sie das Geschenkpapier und hält einen aufwendig gearbeiteten, vergoldeten Bilderrahmen in der Hand.
Ich habe ein Foto von Cassie und ihrem Vater hineingesteckt. Eins, das kurz nach unserem ersten offiziellen Weihnachten als Familie aufgenommen wurde, als sie gerade vierzehn war. Sie sitzt bei ihrem Vater auf dem Schoß, den Kopf in den Nacken, und lacht. Auch Rob lacht. Seine Hand ruht auf ihrem Knie, und ihre Hand auf seiner. Sie hatte damals gar nicht mitbekommen, dass ich sie fotografierte, und irgendwie habe ich ihr das Bild nie gezeigt.
Wahrscheinlich, weil selbst ich den Augenblick als sehr intim empfand und fürchtete, sie würde das Ablichten als ein Eindringen in ihre Privatsphäre auffassen. Das Foto wäre der Beweis dafür gewesen, dass ich dabei war, als sie glaubte, mit ihrem Vater allein zu sein. Als sie mit ihm zusammen entspannt und glücklich war.
Cas fixiert es unverwandt, ohne ein Wort zu sagen. Sie wird immer röter im Gesicht. Einen Moment lang befürchte ich, dass sie wütend ist, doch dann wendet sie sich mir zu, und ich sehe, dass sie weint. Sie lehnt sich zu mir herüber und haucht mir einen Kuss auf die Wange.
»Danke«, flüstert sie, steht auf und geht langsam nach oben, den Rahmen mit dem Foto fest an ihre Brust gedrückt.
Der Abend hat mich emotional so aufgewühlt, dass ich sehr unruhig schlafe. Genau genommen schlafe ich überhaupt nicht. Ich liege mit offenen Augen im Bett und lasse den Blick durchs Zimmer wandern. Ich bleibe an dem Schuhkarton hängen, der auf dem Kleiderschrank steht und den ich am Tag unseres Picknicks entdeckt hatte. Seither hatte ich ihn völlig vergessen. Jetzt packt mich die Neugier.
Ich knipse die Nachttischlampe an, schiebe den Stuhl vor den Schrank und klettere darauf. Mit dem Karton in der Hand steige ich wieder hinunter und kehre ins Bett zurück. Ich entferne das Band, mit dem der Karton so liebevoll zugebunden ist, und finde ein etwas mitgenommen aussehendes Manuskript. Es dauert einen Moment, bis mir dämmert, dass die Handschrift meine eigene ist. Ich hatte gedacht, dieser Schreibversuch sei längst verschollen. Das habe ich verfasst, als ich hier lebte. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das vom Land in die Stadt zieht, um reich und berühmt zu werden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind natürlich rein zufällig.
Fasziniert lehne ich mich zurück und vertiefe mich in den Text. Seltsam, all das jetzt wieder zu lesen. Meine damalige Vorstellung davon, wie mein Leben weiter verlaufen würde. Und sie nun mit dem vergleichen zu können, was sich tatsächlich zugetragen hat, seit ich nach London gegangen bin. Wovon ich in aller Unbescheidenheit am allermeisten beeindruckt bin, ist, wie gut das ist, was ich da zu Papier gebracht habe! Ein bisschen unreif vielleicht, aber ich war ja noch jung. Wenn ich noch mal etwas daran arbeitete, könnte es vielleicht …
Vier Stunden später klappe ich meinen Laptop wieder zu – und das auch nur, weil mir plötzlich auffällt, wie spät es geworden ist. Den Roman meiner Jugend abzutippen und dabei zu redigieren hat mich alles andere um mich herum vergessen lassen. Seit Langem habe ich mich nicht mehr so ausgeglichen gefühlt.
Heiligabend.
Ich wache mit gemischten Gefühlen auf. Laura ist aufgeregt, Cas sehr
Weitere Kostenlose Bücher