Wiedersehen mit Mrs. Oliver
erwiderte Lady Stubbs, »aber ich bin müde und werde schlafen gehen.«
Sie sprach wie ein zufriedenes kleines Kind. Als Sir George aus dem Esszimmer in die Diele kam, wandte sie sich an ihn und wiederholte: »Ich bin müde, George. Hast du etwas dagegen, wenn ich schlafen gehe?«
Er ging zu ihr und klopfte ihr zärtlich auf die Schulter.
»Leg dich nur hin, Hattie, damit du morgen frisch und schön bist.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn; sie ging die Treppe hinauf, winkte und sagte: »Ich wünsche euch allen eine gute Nacht!« Sir George lächelte ihr nach. Miss Brewis hielt den Atem an und wandte sich ärgerlich ab.
»Kommen Sie – alle an die Arbeit!«, rief sie mit erzwungener Fröhlichkeit.
Bald hatten alle ihre Arbeit zugewiesen bekommen, aber da Miss Brewis nicht überall gleichzeitig sein konnte, gelang es einigen der Anwesenden, sich nach einiger Zeit aus dem Staub zu machen. Michael Weyman bemalte ein Plakat mit einer prachtvollen, giftig aussehenden Schlange und den Worten: »Für zwei Shilling wird Ihnen Madame Suleika die Zukunft voraussagen.« Dann verschwand er unauffällig. Alec Legge erledigte ein paar unwichtige Kleinigkeiten, dann verließ er das Zimmer, um, wie er sagte, die Wurfbude auszumessen, und kam nicht wieder zurück. Die Damen arbeiteten nach Frauenart fleißig und gewissenhaft. Hercule Poirot folgte dem Beispiel seiner Gastgeberin und ging früh zu Bett.
7
A m nächsten Morgen erschien Hercule Poirot um halb zehn am Frühstückstisch. Das Frühstück wurde nach Vorkriegsart serviert. Auf einer langen, elektrischen Heizplatte stand eine Reihe von Schüsseln mit verschiedenen Gerichten. Sir George verzehrte ein reichhaltiges englisches Frühstück, das aus Rühreiern, Speck und gebratenen Nieren bestand. Mrs Oliver und Miss Brewis aßen nicht ganz so viel wie der Herr des Hauses. Michael Weyman vertilgte große Mengen von Schinken, nur Lady Stubbs würdigte die Fleischtöpfe Ägyptens keines Blickes, sondern knabberte an einem Stückchen trockenen Toast und trank schwarzen Kaffee. Sie trug einen hellrosa Hut, der beim Frühstück fehl am Platze zu sein schien.
Die Post war soeben angekommen. Vor Miss Brewis lag ein ganzer Stoß von Briefen, die sie rasch in verschiedene Häufchen sortierte. Sie öffnete alle Briefe an Sir George, nur die, auf denen ›Persönlich‹ stand, überreichte sie ihm ungeöffnet.
Lady Stubbs erhielt drei Briefe, die sie sofort öffnete. Die beiden ersten Umschläge enthielten offensichtlich Rechnungen, die sie beiseite schob. Dann öffnete sie den dritten Brief und rief plötzlich mit klarer Stimme: »Oh …«
Ihr Ausruf klang so erstaunt, dass sich ihr sofort alle zuwandten.
»Ein Brief von Etienne«, erklärte sie. »Mein Vetter Etienne wird uns besuchen – mit seiner Jacht.«
»Zeig mal her, Hattie«, sagte Sir George und streckte seine Hand aus. Sie reichte ihm den Brief, er glättete den Briefbogen und begann zu lesen.
»Wer ist dieser Etienne de Sousa? Ein Vetter?«
»Ich glaube; oder ein Vetter zweiten Grades. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Er war …« Sie zögerte und zuckte dann die Achseln.
»Ja? Was war er?«
»Spielt keine Rolle – das ist alles schon so lange her. Ich war damals noch ein kleines Mädchen.«
»Dann wirst du dich sicherlich kaum an ihn erinnern können, aber wir müssen ihn natürlich trotzdem empfangen«, sagte Sir George herzlich. »Schade, dass gerade heute das Gartenfest stattfindet. Wir werden ihn zum Abendessen einladen. Vielleicht würde er gern ein oder zwei Tage bei uns verbringen – wir könnten ihm die Gegend zeigen, nicht?«
Sir George spielte die Rolle des überaus gastfreundlichen Gutsbesitzers. Lady Stubbs antwortete nicht, sondern starrte in ihre Kaffeetasse.
Die allgemeine Unterhaltung wandte sich wieder dem Gartenfest zu. Nur Poirot beteiligte sich nicht daran; er beobachtete die schlanke, exotische Gestalt am oberen Ende des Tisches und fragte sich, was wohl in ihrem Kopf vorgehen mochte. Im selben Augenblick sah sie auf, und ihre Blicke kreuzten sich. Ihr Ausdruck war in diesem Moment so überlegen, so gerissen, dass Poirot aufs höchste überrascht war. Als sie jedoch seinen Blick bemerkte, änderte sich ihr Ausdruck sofort und machte der üblichen Leere Platz.
War es möglich? Eben noch sah sie kalt und berechnend aus, und jetzt … Oder hatte er sich das nur eingebildet …? Allerdings verfügten geistig zurückgebliebene Menschen oft über eine gewisse Schlauheit, die
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