Wiedersehen mit Mrs. Oliver
sogar besser als ihr Mann. Aber das ist ja ganz unwichtig …«
»Was für ein Mensch ist sie wirklich, Madame?«
»Das ist eine sonderbare Frage, M. Poirot.«
»Wissen Sie, dass Lady Stubbs nirgends zu finden ist?«
Wiederum überraschte sie ihn mit ihrer Antwort. Sie schien weder erstaunt noch beunruhigt zu sein. Sie sagte: »Also ist sie fortgelaufen? Ich verstehe.«
»Erscheint Ihnen das ganz natürlich?«
»Natürlich ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber Hattie ist eben ziemlich unberechenbar.«
»Glauben Sie, dass sie fortgelaufen ist, weil sie ein schlechtes Gewissen hat?«
»Wie kommen Sie denn darauf, M. Poirot?«
»Ihr Vetter erzählte mir heute Nachmittag von ihr, und er erwähnte unter anderem, dass sie schon als Kind geistig zurückgeblieben war. Es muss Ihnen doch bekannt sein, Madame, dass solche Menschen nicht immer für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können.«
»Was wollen Sie damit sagen, M. Poirot?«
»Wie Sie selbst vorhin festgestellt haben, sind solche Menschen einfältig – wie Kinder –, aber in einem plötzlichen Wutanfall mögen sie unter Umständen imstande sein, zu töten.«
»So dürfen Sie nicht von Hattie sprechen!«, sagte Mrs Folliat in plötzlich aufwallendem Ärger. »Das kann ich nicht zulassen. Sie war ein sanftes, warmherziges Geschöpf, selbst wenn sie – wenn sie etwas einfältig war. Hattie würde niemals getötet haben!«
Sie atmete schwer und sah ihn herausfordernd an. Was sie sagte, machte Poirot nachdenklich – sehr, sehr nachdenklich.
Die Unterhaltung wurde durch das Erscheinen von Constable Hoskins unterbrochen. Er bemerkte entschuldigend: »Ich habe überall nach Ihnen gesucht, Mrs Folliat.«
»Guten Abend, Hoskins.« Mrs Folliat hatte ihre Haltung zurückgewonnen; sie wirkte jetzt wieder wie die Herrin von Nasse House. »Um was handelt es sich?«
»Ich soll Ihnen vom Kommissar bestellen, dass er Sie gern sprechen möchte – wenn Sie’s einrichten können«, fügte er hinzu, nachdem auch ihm, wie vorher Hercule Poirot, die Nachwirkungen des Schocks auf Mrs Folliat aufgefallen waren.
»Selbstverständlich stehe ich zu seiner Verfügung.« Mrs Folliat erhob sich und folgte Hoskins aus dem Zimmer.
Poirot, der höflich aufgestanden war, setzte sich wieder hin und starrte stirnrunzelnd zur Decke empor.
Als Mrs Folliat eintrat, erhob sich der Kommissar, und Hoskins rückte einen Stuhl für sie neben den Schreibtisch.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie bemühen muss, Mrs Folliat«, entschuldigte sich Bland, »aber ich nehme an, dass Sie die ganze Nachbarschaft kennen und daher vielleicht in der Lage sein werden, uns zu helfen.«
Mrs Folliat lächelte schwach. »Ja, ich glaube, alle Leute in der Gegend gut zu kennen. Was möchten Sie wissen, Kommissar?«
»Kennen Sie die Tuckers? Die Familie und das Mädchen?«
»Ja, natürlich. Sie leben schon seit langer Zeit als Kleinpächter auf dem Gut. Mrs Tucker war die Jüngste einer großen Familie. Ihr ältester Bruder war unser Obergärtner. Sie heiratete den Landarbeiter Alfred Tucker – nicht sehr intelligent. Mrs Tucker neigt dazu, eine Haustyrannin zu sein. Ihr Heim ist sehr sauber, und sie ist eine gute Hausfrau, aber Tucker darf niemals mit schmutzigen Schuhen das Haus betreten, und auch an den Kindern hat sie oft etwas auszusetzen. Die meisten sind jetzt bereits verheiratet und selbständig. Nur die arme Marlene war noch zu Hause und drei kleinere Geschwister, ein Mädchen und zwei Jungen, die noch zur Schule gehen.«
»Wie ich sehe, kennen Sie die Familie gut, Mrs Folliat. Haben Sie eine Ahnung, warum Marlene heute ermordet worden ist?«
»Nein, ich kann mir nicht vorstellen, warum das arme Kind sterben musste. Sie hatte keinen Freund, auch keine Verehrer, wenigstens nicht, dass ich wüsste.«
»Können Sie mir etwas über die Leute sagen, die an der Mörderjagd teilgenommen haben.«
»Mrs Oliver habe ich vorher nicht gekannt. Sie ist anders, als ich erwartet hatte; so stellte ich mir eine Autorin von Kriminalromanen nicht vor. Die Arme ist natürlich fassungslos – kein Wunder, nach den entsetzlichen Ereignissen.«
»Und die anderen Beteiligten? Zum Beispiel Captain Warburton?«
»Ich wüsste nicht, warum er Marlene Tucker hätte ermorden sollen – falls Sie das von mir wissen wollen«, erklärte Mrs Folliat ruhig. »Ich mag ihn nicht besonders gut leiden, weil er mir etwas zu verschlagen ist, aber als Politiker kommt man mit Offenheit wohl nicht weit. Auf jeden
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