Wiedersehen mit Mrs. Oliver
bringen, warum also sollte sie das nicht einfach zugeben? Warum behauptete sie, dass Lady Stubbs sie darum gebeten hätte? Warum log sie? War es möglich, dass Marlene bereits tot war, als Miss Brewis zum Bootshaus kam? Das schien sehr unwahrscheinlich, falls Miss Brewis den Mord nicht selbst begangen hatte. Sie war weder eine nervöse noch eine phantasiereiche Frau. Wenn sie das Mädchen tot vorgefunden hätte, würde sie sicherlich sofort Alarm geschlagen haben.
Er starrte eine Zeitlang auf die Fragen, die er in sein Notizbuch geschrieben hatte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er irgendwo einen ausschlaggebenden Punkt übersehen haben musste. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, schrieb er Folgendes auf:
Etienne de Sousa erklärt, er habe drei Wochen vor seiner A n kunft an seine Kusine geschrieben. Ist das wahr oder nicht?
Poirot war fast sicher, dass es nicht zutraf. Er erinnerte sich an die Szene beim Frühstückstisch. Aus welchem Grund sollten Sir George oder Lady Stubbs Erstaunen, ja Bestürzung vorgetäuscht haben – wenn sie dergleichen gar nicht fühlten? Welchen Sinn sollte das gehabt haben? Angenommen, Etienne de Sousa hatte gelogen – warum? Um den Eindruck zu erwecken, dass sein Besuch willkommen war? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Bestimmt gab es keinen Beweis, dass ein solcher Brief geschrieben oder empfangen worden war. War es ein Versuch von de Sousa, sein bona fides nachzuweisen? Wollte er den Eindruck erwecken, dass er erwartet wurde? Sir George hat ihn jedenfalls freundschaftlich empfangen, obgleich er ihn nicht kannte.
Poirot kam plötzlich auf einen neuen Gedanken: Sir George kannte de Sousa nicht. Seine Frau, die ihn kannte, hatte ihn nicht gesehen. Wäre es möglich, dass der Etienne de Sousa, der am Tag des Gartenfestes ankam, gar nicht der Richtige Etienne de Sousa war? Er dachte lange darüber nach, kam aber zu keinem Resultat. Welchen Grund hätte er gehabt, sich als de Sousa auszugeben, wenn er es nicht war? Was konnte er dadurch erreichen? Außerdem hätte er von Hatties Tod keinerlei Vorteile erwarten können. Wie die Polizei festgestellt hatte, besaß Hattie kein eigenes Geld, außer dem Taschengeld, das ihr Mann ihr gab.
Poirot versuchte, sich genau daran zu erinnern, was sie ihm an jenem Morgen gesagt hatte: »Er ist böse. Er ist ein schlechter Mensch.« Und Bland fand heraus, dass sie zu ihrem Mann gesagt hatte: »Er bringt Menschen um.«
Im Rahmen der allgemeinen Untersuchungen schien dieser Satz jetzt eine besondere Bedeutung zu gewinnen: Er bringt Menschen um.
Am Tage von Etienne de Sousas Ankunft in Nasse House war zweifellos jemand ums Leben gekommen – vielleicht waren es sogar zwei Personen gewesen. Mrs Folliat aber sagte nachdrücklich, dass man Hatties melodramatischen Ausbrüchen keine Beachtung schenken sollte. Mrs Folliat …
Hercule Poirot runzelte die Stirn, dann trommelte er mit den Fingern auf die Sessellehne.
»Ich komme immer wieder zu Mrs Folliat zurück. Wenn ich wüsste, was sie weiß … nein, ich kann nicht mehr im Sessel sitzen bleiben und nachdenken. Ich muss Mrs Folliat aufsuchen.«
Hercule Poirot blieb einen Augenblick vor dem großen, schmiedeeisernen Tor von Nasse House stehen. Er blickte auf die lange, gewundene Auffahrtsstraße, die vor ihm lag. Der Sommer war vorüber; die goldbraunen Blätter der Bäume wehten langsam zur Erde, und auf den Grashängen blühten kleine, hellviolette Alpenveilchen. Poirot seufzte. Die Schönheit von Nasse beeindruckte ihn, ob er es wollte oder nicht. Im Allgemeinen bewunderte er ungezähmte Naturschönheit nicht; er liebte alles ordentlich und gepflegt, aber die gewaltigen Bäume und die wild wuchernden Hecken waren ein herrlicher Anblick.
Zu seiner Linken befand sich das kleine weiße Pförtnerhaus.
Es war ein schöner Nachmittag, und Mrs Folliat würde wahrscheinlich nicht zu Hause sein. Sie würde sich entweder mit Gartenkorb und Gartenschere irgendwo auf dem Grundstück befinden oder Freunde in der Nachbarschaft besuchen. Sie besaß eine große Anzahl von Freunden. Hier war seit vielen, vielen Jahren ihr Heim. Wie hatte der alte Mann am Kai gesagt: »In Nasse House wird es immer Folliats geben.«
Poirot klopfte vorsichtig an die Tür des Pförtnerhauses. Bald darauf hörte er Schritte – langsame, zögernde Schritte. Dann wurde die Tür geöffnet, und Mrs Folliat stand im Türrahmen. Er stellte erstaunt fest, wie zart und zerbrechlich sie aussah. Sie starrte ihn einen
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