Wiedersehen mit Mrs. Oliver
Standpunkt aus wahrscheinlich nicht, aber Marlene hätte wohl anders darüber gedacht.«
»Und obwohl wir Alten, wie Sie sagten, den Tod erwarten, wollen auch wir noch nicht sterben. Ich jedenfalls nicht, ich finde das Leben noch immer hochinteressant.«
»Ich nicht.« Sie sprach mehr zu sich selbst als zu ihm. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Ich bin sehr müde, M. Poirot. Ich werde nicht nur bereit sein, sondern auch dankbar, wenn meine Zeit kommt.«
Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Wiederum fragte er sich, ob ihm vielleicht eine kranke Frau gegenübersaß, eine Frau, die wusste, dass der Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen würde? Gab es eine andere Erklärung für ihr müdes, resigniertes Benehmen? Diese Mattigkeit passte nicht zu Amy Folliat; Poirot spürte, dass sie eine von Natur aus energische und zielbewusste Frau war. Sie hatte viel Schweres durchgemacht: Sie hatte ihr Heim und ihr Vermögen verloren, und ihre beiden Söhne waren gestorben. Sie hatte all das überlebt, hatte ›das tote Holz ausgemerzt‹, aber jetzt gab es etwas in ihrem Leben, das weder sie selbst noch ein anderer ausmerzen konnte. Er hatte keine Ahnung, was es sein mochte, falls es keine körperliche Krankheit war. Plötzlich lächelte sie schwach, als könnte sie seine Gedanken lesen.
»Ich habe wirklich nicht viel vom Leben, M. Poirot«, sagte sie. »Ich habe zwar viele Freunde, aber keine nahen Verwandten, keine Familie.«
»Sie haben Ihr Heim«, warf Poirot, einem Impuls folgend, ein.
»Sie meinen Nasse? Ja …«
»Nasse ist doch Ihr Heim, obwohl es auf dem Papier Sir George Stubbs gehört, nicht wahr? Jetzt, nachdem Sir George nach London gefahren ist, führen Sie statt seiner das Zepter.«
Wieder bemerkte er den furchtsamen Ausdruck ihrer Augen.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Ich bin Sir George dankbar, dass er mir das Pförtnerhaus vermietet hat. Ich bezahle pünktlich meine Miete, und es ist mein gutes Recht, das Grundstück zu betreten.«
Poirot breitete die Hände aus.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, Madame. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Ich muss Sie falsch verstanden haben«, meinte Mrs Folliat.
»Ein wunderschönes Haus und ein herrliches Grundstück«, sagte Poirot. »Hier herrschen Ruhe und Frieden.«
»Ja, das habe ich auch immer so empfunden«, stimmte ihm Mrs Folliat zu. Ihre Stimme klang jetzt wärmer. »Schon als Kind, als ich es zum ersten Mal sah.«
»Aber jetzt ist es nicht mehr so ruhig und friedlich, nicht wahr, Madame?«
»Warum nicht?«
»Ein ungeahndeter Mord, unschuldig vergossenes Blut«, sagte Poirot. »Bevor sich dieser Schatten nicht gehoben hat, wird es hier keinen Frieden geben. Und das wissen Sie ebensogut wie ich, Madame«, fügte er hinzu.
Mrs Folliat antwortete nicht. Sie bewegte sich nicht, sie sprach nicht. Sie saß ganz still da, und Poirot hatte keine Ahnung, woran sie dachte. Er beugte sich etwas vor und sagte:
»Sie wissen über vieles, was mit diesem Mord zusammenhängt, Bescheid, Madame, vielleicht über alles. Sie wissen, wer das Mädchen ermordet hat und warum. Sie wissen, wer Hattie Stubbs getötet hat und vielleicht sogar, wo ihre Leiche verborgen ist.«
Mrs Folliat antwortete mit lauter, fast barscher Stimme.
»Ich weiß nichts«, sagte sie. »Gar nichts.«
»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Sie wissen es nicht, Madame, aber Sie können es erraten. Ich bin sicher, dass Sie es erraten haben.«
»Verzeihen Sie, M. Poirot, aber das ist geradezu lächerlich!«
»Es ist nicht lächerlich – es ist gefährlich, Madame.«
»Gefährlich? Für wen?«
»Für Sie, Madame. Solange Sie Ihr Wissen für sich behalten, sind Sie in Gefahr. Ich habe mehr Erfahrung mit Mördern als Sie.«
»Ich sagte Ihnen bereits, ich weiß von nichts.«
»Aber Sie haben einen Verdacht …«
»Auch keinen Verdacht.«
»Entschuldigen Sie, Madame, das ist nicht wahr.«
»Es wäre sehr unrecht, einen unbegründeten Verdacht auszusprechen, es wäre niederträchtig.«
Poirot beugte sich vor. »Ebenso niederträchtig wie das, was hier vor einem Monat geschehen ist?«
Sie saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl und flüsterte: »Sprechen Sie nicht mit mir darüber.« Dann fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu: »Außerdem ist es ja vorbei – ein für allemal erledigt.«
»Woher wollen Sie das wissen, Madame? Ich kann Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung sagen, dass ein unaufgeklärter Mord niemals erledigt
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