Wiedersehen mit Mrs. Oliver
schweifte vom Puzzlespiel zu dem auf der anderen Kaminseite stehenden Sessel, auf dem noch vor einer halben Stunde Kommissar Bland gesessen, Tee getrunken und sich ziemlich verstimmt mit ihm unterhalten hatte. Er war beruflich in London, und nach getaner Arbeit hatte er Poirot einen Besuch abgestattet. Er wollte, wie er erklärte, herausfinden, ob Poirot bestimmte Theorien habe. Dann hatte er ihm seine eigene Theorie vorgetragen, und Poirot war in allen Punkten seiner Meinung gewesen. Er fand, dass Kommissar Bland ein klares und unvoreingenommenes Gutachten über den Fall abgegeben hatte.
Inzwischen waren seit den Ereignissen in Nasse House fast fünf Wochen vergangen – fünf deprimierende, ergebnislose Wochen. Man hatte die Leiche von Lady Stubbs nicht entdeckt; vielleicht war Hattie sogar noch am Leben – jedenfalls fand man keine Spuren. Aber Kommissar Bland hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass Lady Stubbs noch lebte. Poirot war derselben Meinung.
»Natürlich besteht die Möglichkeit, dass die Leiche nicht an Land geschwemmt worden ist; sie mag noch irgendwo auftauchen, würde aber wohl kaum mehr zu identifizieren sein«, meinte Bland.
»Es gibt eine dritte Möglichkeit«, bemerkte Poirot.
Bland nickte.
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht, es geht mir sogar dauernd im Kopf herum. Sie glauben, dass der Leichnam noch immer irgendwo auf dem Grundstück verborgen ist, an einer Stelle, die wir übersehen haben. Möglich wäre es … Es ist ein altes Haus und eine riesige Besitzung; es mag Stellen geben, die uns niemals aufgefallen sind, die man nicht findet, wenn man nicht von ihnen weiß.« Nach einer kurzen, nachdenklichen Pause fuhr er fort: »Neulich war ich in einem Haus, an das während des Krieges ein Luftschutzschuppen angebaut worden war. Der Schuppen war nicht sehr solide gebaut; ein Gang führte von ihm in den Keller des Hauses. Nach dem Krieg verfiel der Schuppen; man schaufelte Erde über den Schutthaufen und machte eine Art Steingarten daraus. Wenn man jetzt durch den Garten schlendert, würde man nie darauf kommen, dass dort einmal ein Luftschutzschuppen gestanden hat und dass sich unter den Beeten ein Raum befindet. Sieht aus, als wäre es immer ein Steingarten gewesen, aber nach wie vor führt ein Gang, der jetzt nur von einem Weinfass verstellt ist, vom Keller in den Garten … Sie verstehen, was ich meine? Ein Ort, von dem ein Fremder nichts wissen kann. Ich nehme an, dass es auf Nasse kein eigentliches Burgverlies gibt?«
»Nein, um die Zeit, als Nasse House gebaut wurde, gab es das nicht.«
»Das denkt Mr Weyman auch; er sagt, das Haus wurde um 1790 gebaut, als die Priester keinen Grund hatten, sich zu verstecken. Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass zu irgendeiner Zeit bauliche Veränderungen stattgefunden haben, von denen ein Familienmitglied wissen mag. Was meinen Sie, Monsieur Poirot?«
»Mag sein, mais oui, das ist eine Idee«, stimmte Poirot zu. »Wenn man diese Möglichkeit akzeptierte, wäre die nächste Frage: Wer könnte davon wissen? Wahrscheinlich irgend jemand, der im Haus wohnt …«
»Ja. In diesem Fall käme de Sousa natürlich nicht mehr in Betracht.« Der Kommissar machte ein unzufriedenes Gesicht, denn er hatte de Sousa noch immer in starkem Verdacht. »Wie Sie sagen, irgendjemand, der im Haus wohnt, entweder einer der Dienstboten oder ein Familienmitglied, könnte Bescheid wissen. Jemand, der nur zu Besuch ist, würde wohl kaum orientiert sein, und Leute, die wie die Legges nur gelegentlich ins Haus kommen, noch weniger.«
»Eine Person, die bestimmt über diese Dinge Bescheid weiß, ist Mrs Folliat; sie würde Ihnen sicherlich die gewünschte Auskunft geben«, bemerkte Poirot.
Mrs Folliat weiß alles Wissenswerte über Nasse House, dachte Poirot … Mrs Folliat weiß sehr viel … Mrs Folliat hatte sofort gewusst, dass Hattie Stubbs tot war. Mrs Folliat hatte, bevor Marlene und Hattie ums Leben gekommen waren, festgestellt, dass die Welt schlecht und voller schlechter Menschen war. Mrs Folliat ist der Schlüssel zu allem, dachte Poirot irritiert, aber ein Schlüssel, mit dem sich das Schloss nicht allzu leicht öffnen lassen würde.
»Ich habe die Dame mehrfach verhört«, sagte der Kommissar. »Sie ist sehr nett und scheint sehr unglücklich darüber zu sein, dass sie uns in keiner Weise helfen kann.«
Kann sie nicht oder will sie nicht? dachte Poirot. Vielleicht dachte Bland dasselbe.
»Sie ist eine Frau, die man nicht zwingen kann«, meinte er.
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