Wiedersehen mit Mrs. Oliver
seinem Alter lieber ruhig zu Hause bleiben sollen, aber er wollte ja nicht auf uns hören, hat den ganzen Tag lang am Kai herumgestanden.«
»Na ja, Vater ist eben nichts über seine Boote gegangen«, meinte Mrs Tucker. »Früher, unter dem alten Mr Folliat, war er für die Boote verantwortlich, aber das ist schon viele Jahre her. Ein großer Verlust ist es ja nicht gewesen«, fuhr sie offenherzig fort, »Vater war über neunzig und hatte etliche komische Angewohnheiten, hat immerzu vor sich hin gebrummt. Seine Zeit war gekommen. Aber wir mussten ihn natürlich in Ehren begraben, und zwei Begräbnisse kosten viel Geld.«
Diese finanziellen Erwägungen interessierten Poirot nicht, aber er schien sich plötzlich an etwas zu erinnern.
»Ein alter Mann? Beim Kai? Ich habe, glaube ich, mit ihm gesprochen. Wie heißt er?«
»Merdell – das war mein Mädchenname.«
»Wenn ich mich recht erinnere, war Ihr Vater Obergärtner auf Nasse?«
»Nein, das war mein ältester Bruder, ich bin die Jüngste – wir waren elf Geschwister.« Mrs Tucker fügte stolz hinzu: »Die Merdells haben viele Jahre auf Nasse gearbeitet, aber jetzt sind wir natürlich in alle Winde verstreut.«
»In Nasse House wird es immer Folliats geben«, murmelte Poirot vor sich hin.
»Wie bitte?«
»Ich wiederhole nur, was Ihr alter Vater am Kai zu mir gesagt hat.«
»Na ja, Vater hat viel Unsinn geredet; manchmal hab ich ihm ordentlich die Meinung sagen müssen.«
»Also Marlene war Merdells Enkeltochter, ich verstehe«, stellte Poirot fest. Er schwieg einen Augenblick, dann bemächtigte sich seiner ganz unvermittelt eine große Erregung. »Sie sagten, dass Ihr Vater im Fluss ertrunken ist?«
»Ja, hat einen über den Durst getrunken – woher er das Geld dafür hatte, weiß ich nicht. Natürlich hat er manchmal ein Trinkgeld bekommen, wenn er Leuten am Kai mit den Booten geholfen hat oder mit dem Parken von ihren Autos. Und er war ganz gerissen – hat das Geld immer vor mir versteckt. Ja, ja, muss wohl einen über den Durst getrunken haben, ins Wasser gefallen und ertrunken sein. Seine Leiche wurde noch am selben Abend in der Nähe von Helmmouth an Land gespült. Ein Wunder, dass das nicht viel eher passiert ist – ein alter Mann von zweiundneunzig und halb blind … Na ja, es war eben ein Unfall, der sich nicht vermeiden ließ.«
»Ein Unfall«, murmelte Poirot, »ich bin nicht so sicher.«
Er stand auf und flüsterte vor sich hin: »Darauf hätte ich schon lange kommen sollen … das Kind hat es mir ja sozusagen erzählt …«
»Verzeihung?«
»Nichts – gar nichts«, entgegnete Poirot. »Darf ich Ihnen beiden nochmals mein Beileid zum Tode Ihrer Tochter und Ihres Vaters aussprechen.«
Er schüttelte beiden die Hände und verließ das Haus. Zu sich selbst sagte er: »Ich war töricht – sehr töricht. Ich habe alles im falschen Licht gesehen.«
»Entschuldigen Sie bitte«, flüsterte eine kindliche Stimme.
Poirot drehte sich um und sah die dicke, kleine Marylin, die im Schatten der Hausmauer stand. Das Kind winkte ihn heran und sagte leise: »Mummy weiß nicht alles. Marlene hat den Schal gar nicht von der Dame bekommen.«
»Woher hatte sie ihn denn?«
»Hat ihn sich in Torquay gekauft und einen Lippenstift auch und eine kleine Flasche Parfüm mit einem komischen Namen: Nuits de Paris hieß es, und eine Tube Hautcreme, wo sie in einer Annonce davon gelesen hatte.« Marylin kicherte. »Mummy weiß das nicht. Marlene hat alles in der Schublade versteckt, unter ihrer Wollwäsche. Wenn sie ins Kino ging, hat sie sich immer im WC bei der Bushaltestelle zurechtgemacht.«
Marylin kicherte wieder. »Das hat Mummy nie gewusst.«
»Hat deine Mutter die Sachen nach Marlenes Tod nicht gefunden?«
Marylin schüttelte ihren Lockenkopf.
»Nein, ich, hab sie nämlich jetzt, sie liegen in meiner Schublade. Mummy weiß es natürlich nicht.«
Poirot sah sie nachdenklich an und sagte:
»Du scheinst ein kluges Kind zu sein, Marylin.«
Marylin lächelte verlegen.
»Miss Bird meint, es hat keinen Zweck, dass ich versuche, eine Freistelle für die höhere Schule zu kriegen.«
»So wichtig ist die höhere Schule auch nicht«, meinte Poirot. »Sag mal, woher hat Marlene das Geld gehabt, um sich diese Sachen zu kaufen?«
Marylin blickte starr auf die Dachrinne am Haus.
»Weiß ich nicht«, murmelte sie.
»Ich glaube, du weißt es doch.«
Er nahm ohne zu zögern ein Zweishillingstück aus seiner Tasche und fügte noch ein Zweites hinzu.
»Ich
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