Wiedersehen mit Mrs. Oliver
habe von einem sehr guten neuen Lippenstift gehört, er heißt ›Purpur-Kuss‹.«
»Klingt fabelhaft«, meinte Marylin und streckte ihre Hand nach den beiden Geldstücken aus, dann flüsterte sie ihm schnell zu: »Unsere Marlene hat immer so ein bisschen rumgeschnüffelt, und manchmal hat sie Sachen gesehen – Sie wissen schon was –, und dann hat Marlene versprochen, es keinem zu erzählen, und dann haben sie ihr was geschenkt, verstehen Sie?«
»Ich verstehe«, sagte Poirot und drückte ihr das Geld in die Hand. Dann nickte er Marylin zu und ging. Er flüsterte immer wieder atemlos: »Ich verstehe« – aber diesmal hatte es eine ganz bestimmte Bedeutung.
So vieles wurde ihm jetzt klar – nicht alles, durchaus nicht alles; aber endlich war er auf der richtigen Spur. Es war eine ganz deutliche Spur; wenn er nur intelligent genug gewesen wäre, sie gleich zu erkennen … Jene erste Unterhaltung mit Mrs Oliver, die zufälligen Bemerkungen von Michael Weyman, die bedeutungsvolle Unterhaltung mit dem alten Merdell am Kai, die interessanten Feststellungen, die Miss Brewis gemacht hatte – und die Ankunft von Etienne de Sousa.
Neben der Dorfpost befand sich eine öffentliche Telefonzelle. Er ging hinein und wählte eine Nummer; bald darauf sprach er mit Kommissar Bland.
»Wo sind Sie, M. Poirot?«
»Ich bin hier, in Nassecombe.«
»Aber gestern Nachmittag waren Sie doch noch in London?«
»Mit dem Schnellzug ist man in dreieinhalb Stunden hier«, erklärte Poirot. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«
»Ja?«
»Was für eine Jacht hatte Etienne de Sousa?«
»Vielleicht weiß ich, was Sie denken, M. Poirot, doch ich versichere Ihnen, dass sie nicht für Schmuggelzwecke eingerichtet war. Das meinen Sie doch, nicht wahr? Es gab keine doppelten Böden oder Geheimfächer; wir hätten sie gefunden, wenn welche da gewesen wären. Es war bestimmt kein Platz auf der Jacht, wo man eine Leiche hätte verstecken können.«
»Sie irren sich, mon cher, das meine ich nicht. Ich wollte nur wissen, ob die Jacht groß oder klein war.«
»Es war eine sehr elegante Jacht – muss irrsinnig teuer gewesen sein. Alles frisch gestrichen und sehr luxuriös eingerichtet.«
»Wie ich angenommen habe«, sagte Poirot, und seine Stimme klang so zufrieden, dass Kommissar Bland ganz erstaunt war.
»Worauf wollen Sie hinaus, M. Poirot?« fragte er.
»Etienne de Sousa ist ein reicher Mann, und das ist sehr bedeutsam«, erwiderte Poirot.
»Warum?« fragte Bland.
»Weil es meine neueste Theorie bestärkt.«
»Sie haben also eine Theorie?«
»Ja, endlich habe ich eine Idee. Bis jetzt war ich leider ziemlich begriffsstutzig.«
»Sie meinen, bis jetzt sind wir alle begriffsstutzig gewesen.«
»Nein, ich spreche nur von mir«, erklärte Poirot. »Ich hatte das Glück, auf eine völlig klare Spur zu stoßen, und ich habe sie nicht erkannt.«
»Aber jetzt glauben Sie, den richtigen Weg gefunden zu haben?«
»Ich glaube es, ja.«
»Hören Sie zu, M. Poirot …«
Aber Poirot hatte bereits eingehängt. Nachdem er genügend Kleingeld aus seinen Taschen hervorgekramt hatte, verlangte er eine Voranmeldung für Mrs Oliver in London.
»Die Dame soll auf keinen Fall gestört werden, wenn sie gerade bei der Arbeit ist«, fügte er schnell hinzu.
Er erinnerte sich daran, dass Mrs Oliver ihm einmal bittere Vorwürfe gemacht hatte, weil er ihren schöpferischen Gedankenflug unterbrochen hatte und weil die Welt auf diese Weise um einen aufregenden Kriminalroman ärmer wurde, dessen Geheimnis auf einem altmodischen Wollhemd mit langen Ärmeln beruhte. Das Telefonamt schien jedoch kein Verständnis für seine Skrupel zu haben.
»Wollen Sie nun eine Voranmeldung oder nicht?«, fragte die Telefonistin.
»Ja, natürlich«, erwiderte Poirot und opferte Mrs Olivers schöpferisches Genie dem Altar seiner Ungeduld. Er war sehr erleichtert, als er Mrs Olivers Stimme hörte. Sie unterbrach seine Entschuldigungen.
»Großartig, dass Sie anrufen«, sagte sie. »Ich war gerade im Begriff auszugehen, um einen Vortrag über das Thema ›Wie schreibt man Kriminalromane‹ zu halten. Jetzt kann ich meine Sekretärin bitten, anzurufen und zu sagen, dass ich leider durch dringende Geschäfte verhindert bin.«
»Aber Sie dürfen sich auf keinen Fall von mir abhalten lassen, Madame …«
»Ich lasse mich nur zu gern davon abhalten«, meinte Mrs Oliver fröhlich. »Ich hätte mich lächerlich gemacht, denn was kann man eigentlich darüber sagen, wie man ein
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