Wiegenlied Roman
seiner Übersiedlung früher der Fall war, als sie es von ihm kannte. Zudem hatte er es fertiggebracht, drei Besuche im Theater zu absolvieren, um Elsa in verschiedenen Rollen zu sehen. Die Rezensionen Saphirs in der Schnellpost studierte er ebenso aufmerksam wie Helenes Diario, denn jetzt, da sie nur noch ihn hatten, achtete er sehr genau darauf, die Aufmerksamkeit für seine Töchter gerecht zu verteilen.
»Ich möchte dem Apotheker meine Aufwartung machen«, sagte Clemens, während er den Rock von der Lehne seines Schreibtischstuhls nahm. »Wenn du schon nicht dem ärztlichen Rat deines alten Vaters folgen willst, dann könntest du mich mit ihm bekannt machen. Hähnlein ist in der Stadt zur Visitation seiner privaten Patientinnen.«
Klemm, den Apotheker, hatte Helene zuletzt nach der Sektion der Frau gesehen, als sie ihm die Flüssigkeit zur Analyse
überbrachte. Er war ein spreewassergetaufter Bürger Berlins, dem sie stundenlang hätte zuhören können, da er sein Erfahrungswissen in schönstem Dialekt zu übermitteln pflegte. Am Abend vor dem Eintreffen ihres Vaters hatte Hähnlein in Helenes Anwesenheit auf diese unwiderstehliche Weise von dem hageren Mann mit dem fliehenden Kinn und der zurückweichenden Haarpracht, die ihm brünett bis auf die Schultern reichte, das Ergebnis der chemischen Analyse empfangen.
Kaum hatten sie die Offizin der Charité-Apotheke betreten, belegte Klemm den neuen »Herrn Professa« mit Beschlag und entführte ihn bramarbasierend in das Laboratorium. Helene, die, zurückbleibend, erstmals an diesem Morgen Müdigkeit verspürte, fuhr zusammen, als jemand sie am Ärmel zupfte.
»Bist du eine Hebammenschülerin? Wo kommst du denn her? Aus Potsdam oder Berlin?«
Vor ihr stand eine zusammengezurrte kleine Person. Aus dem alten Gesicht, das von einer dunklen Haube umrahmt war, sahen wache Mausaugen zu Helene auf.
»Na, was ist, hat’s dir die Sprache verschlagen, Kind?«
»Ich bin Hebamme hier in der Charité«, sagte Helene überrascht. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
Sie nannte ihren Namen, während die Alte eine Dose mit getrockneten Kräutern auf dem Schubladenschrank abstellte, die sie offenbar zuvor befüllt hatte. Vor den bis zur Decke aufragenden dunklen Regalen wirkte sie geradezu winzig. Die Porzellandose, aus der sie nun ein Pulver entnahm, um es in Papier zu falten, hatte sie mit beiden Händen umfassen müssen, bevor sie sie auf dem Arbeitstisch abstellte.
»Ich bin Rosalie Klemm«, sagte sie. »Manchmal arbeite ich noch mit meinem Sohn. Dich habe ich auch noch nicht gesehen.«
Behände faltete und beschriftete sie die Pulverbriefchen mit den abgewogenen Mengen, die sie aus einer Liste ablas.
»Meine Augen sind besser als seine, aber das hört er nicht gern.«
Sie unterbrach ihre Arbeit und beäugte Helene mit seitlich geneigtem Kopf. »Aber gehört hab ich schon von dir«, sagte sie. »Gelehrtentratsch.« Sie kicherte. »Ja, ja, die Herren Doktoren machen sich so ihre Gedanken.«
»Ich hoffe doch, keine schlechten.«
»Du bist ihnen unheimlich.« Rosalie schloss die Dose und stellte sie zurück an ihren Platz.
»Meinem Sohn bin ich auch manchmal unheimlich«, sagte sie. »Ich kenne das.«
Sie kam näher, griff nach Helenes Hand und blickte zu ihr auf.
»Ich will dir etwas sagen. Ich glaube, du bist die Richtige dafür, und ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Mutter?«
Die alte Rosalie verdrehte die Augen, als sie ihren Sohn aus dem Laboratorium kommen hörte.
Helene beugte sich zu ihr herab. »Was wollen Sie mir denn sagen?«
»Nicht jetzt«, wisperte die Alte. Sie nickte Clemens zu und verschwand zwischen den Regalen in den hinteren Räumen.
»Mein liebes Fräulein, das riecht mir danach, als hätte sie Ihnen eine von ihren Geschichten erzählt.«
Klemm zog eine Schublade auf und steckte Helene eine Schachtel Pfefferminzpastillen zu.
»Sie sollten ihr nicht alles glauben«, sagte er. »Die Fantasie meiner Mutter spielt gern ins Absurde.«
Schon am Nachmittag, als Helene zu ihrer Lehrstunde bei Professor Hähnlein ging, hatte sie Rosalie Klemm vergessen. Sie dachte an Sidonie und wollte Hähnlein fragen, wie oft der chirurgus forensis seine Inspektion der Bordelle vornahm.
»Es kommt mir so vor, als verfolgten Sie bereits wieder eine Ihrer verwegenen Ideen«, sagte Professor Hähnlein. Er bedeutete ihr, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, und klappte das Tintenfass auf.
»Wenn Sie stattdessen Ihre
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