Wiegenlied Roman
lag. So weit konnte sie es allerdings nur kommen lassen, wenn Lula noch keinen Branntwein intus hatte, der nämlich beförderte ihre Leidenschaften, denn Lula liebte im Besonderen Sidonie. Sie musste sich aber mit der mageren Wanda begnügen, einer ehemaligen Modistin, die immer Blut spuckte vor Kummer, wenn Lula zu Sidonie ging. Doch davon hatte Sidonie keinen Schimmer, sonst hätte sie sich Lula längst abgewöhnt.
Ein Windstoß stieß die Fenster weiter auf und ließ das Hemd über Sidonies prallem Bauch flattern. Erste schwere Tropfen gingen auf die Gasse nieder, als Sidonie daran denken musste, wie Perdita ihr zugeredet hatte, sich um eine Pflegestelle für das Kind zu kümmern, denn Friedo versenkte sich nicht nur körperlich in Perdita Roon, sondern bepflanzte sie auch mit seinen Ideen.
»Wir suchen eine Wohnung in einer besseren Gegend«, hatte Perdita gesagt, nur ihr, ganz im Vertrauen. »In der Friedrichsgracht, wenn du weißt, was ich meine, Sidonie, mit dir, wenn du willst, und Celestine. Ansonsten neue Mädchen, die einen Anstrich von Bildung haben, verstehst du mich?«
»Es wird ein schönes Kind, wenn es nach dir kommt«, sagte Lula, als hätte sie ihren Gedanken zugehört. »Was wirst du damit machen?«
Ein Blitz ließ beide zusammenzucken. Fünf Atemzüge dauerte es bis zum Krachen des Donners.
»Ich glaube, ich will es nicht weggeben«, sagte Sidonie. »Genaueres weiß ich noch nicht.«
»Ich würde ja drauf aufpassen«, sagte Lula und begann einen weichen Zopf aus Sidonies Haaren zu flechten, »aber die Roon wird dir den Marsch blasen, die will hier verdammich keinen Schreihals im Haus haben, ist ja auch nicht grade brillant fürs Geschäft.«
Sie knotete ein blaues Band um das Zopfende, bevor sie es losließ. »Vor den Greifern kannst du’s auch nicht lange verstecken - denk nur mal an die dicke Jeanette.«
Sidonie stand auf und schloss vor dem jetzt heftig einsetzenden Regen das Fenster. Sie wollte lieber nicht an den Tag denken, als die Gendarmen der dicken Jeanette das Kind fortgenommen hatten, damit es aus dem Bordell der Majorin, einem der verrufensten Häuser hinter der Königsmauer - was in diesen Winkeln Berlins eine Empfehlung war -, zu einer Pflegefrau kam. Jeanette hatte getobt, als hätte der Leibhaftige sie besprungen, ihre grellen Schreie waren über den Häusern eingeschlagen wie ebenjene Blitze, die jetzt den Himmel zerteilten. Mit dem Likör aus den persönlichen Beständen der Majorin war es gelungen, sie friedlich zu stimmen, so sehr, dass man glauben konnte, sie würde das Kind vergessen und wieder ihre Arbeit verrichten, denn die Männer verlangten in Jeanettes pommerschem Leib Aufnahme zu finden. Jeanette machte ihre Arbeit gut in jener Nacht. Die Mädchen sprachen von siebzehn gezählten Kerlen,
davon einige Spreefischer, die lange ihre Groschen gespart hatten für ein viertelstündiges Glück zwischen Jeanettes mehlweißen Schenkeln.
Am Tag danach allerdings war sie verschwunden, und Sidonie fror, als sie daran dachte, wie die kalte Pauline es einen weiteren Tag genossen hatte, sich im Besitz einer haarsträubenden Neuigkeit zu wissen. Jeanette war an der Nikolaikirche zu einem Freier in eine Droschke gestiegen, dort hatte man sie zum letzten Mal lebend gesehen, denn sie war an einen Unerbittlichen geraten. Ihre Leiche hatte ein Milchkutscher auf den Wiesen hinter dem Schönhauser Tor mit einer Hundepeitsche um den Hals zwischen zwei Haselsträuchern entdeckt.
»Ich wollte dir keine Angst machen«, sagte Lula hinter ihr. Sidonie widerstand dem Wunsch, sich an ihren weichen Körper zu lehnen.
»Schon gut, Lula«, sagte sie. »Lass mich allein. Du musst den anderen die Haare frisieren.«
Lula ging mit einem kummervollen Seufzen. Der Regen prasselte gegen das Fenster und traf auf die Pflastersteine der Gasse. In der plötzlichen Dämmerung des frühherbstlichen Abends glommen erste Lichter hinter den Fenstern der buckligen Häuser auf. Dem Wetter trotzend, machten sich ihre Bewohnerinnen bereit für eine gut besuchte Nacht, so wie Perditas Mädchen, zu denen Sidonie nicht mehr gehörte, seit sie aus der Charité zurückgekehrt war.
Sie konnte sie auf der Treppe hören, wie sie aus dem Salon kamen, wo sie den Nachmittag mit Kartenspielen verbracht hatten und wohin sie frisiert, gewaschen und parfümiert zurückkehren würden, damit die Kundschaft unter Perditas wachsamen Augen die Auswahl hatte.
Sidonie war für die Roon, was Jeanette für die Generalin gewesen
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