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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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mich.«
    Ein plötzlicher Schmerz in den Leisten ließ sie nach Luft schnappen. Sofort war Friedo an ihrer Seite und schob ihr einen Stuhl hin.
    »Du wirst doch hier jetzt nicht niederkommen, Verehrteste«, sagte er. »Das ist mehr, als ich ertragen kann.«
    »Lass mich doch einfach in Ruhe, und halt Perdita bei Laune«, keuchte Sidonie.
    »Ich hole etwas vom ungarischen Wein, das hilft immer.«
    Kraftlos blieb Sidonie sitzen. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf wie bunte Kreisel. Sie wollte sich nicht von Friedos Reden einlullen zu lassen. Was aber, wenn er wirklich erkannte, dass sie das Zeug zum Aufstieg hatte?
    Er kam von Perditas Zimmer mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, die er im Gehen füllte. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass die Bedrohung einer Sturzgeburt sich verflüchtigt hatte.
    »Warte«, sagte er, als Sidonie ihr Glas an die Lippen setzte. »Du musst deinem Gönner schon in die Augen schauen. Dann
erhebst du dein Glas, erst dann nimmst du einen Schluck, und zwar geräuschlos.«
    Ungelenk folgte sie seinen Anweisungen, während er vor ihr am Tisch lehnte. Zwar war ihr schon oftmals gesagt worden, dass sie ein Glas leeren sollte, aber beileibe nicht, wie.
    »Perdita hat dir sicher von unseren Plänen erzählt«, sagte er. »Wenn du mit uns in die neue Wohnung umziehen möchtest, um mit Herren der besseren Gesellschaft Umgang zu haben, hast du noch einiges zu lernen. Wie ich sehen konnte, stützt du bei Tisch die Ellbogen auf, du beugst dich beim Essen zum Teller hinab, schlürfst die Suppe, und du kaust mit offenem Mund, den du dir mit dem Handrücken abwischst. Du rülpst und pulst in den Zähnen. Ich fürchte, du besitzt nicht mal eine Zahnbürste.«
    Verstohlen fuhr Sidonie sich mit der Zunge über die Zähne, während sie, langsam diesmal, aufstand.
    »Was noch?«, sagte sie.
    »Du kratzt dich, du kannst nicht mit einem Fächer umgehen, etwa um ein Gähnen zu verbergen oder einem Herrn Zeichen zu geben. Du schlägst nach Fliegen und hast eine ungehobelte Art zu sprechen. Du lachst zu laut, du fluchst, du schlenkerst mit den Armen beim Gehen, schlenderst, anstatt zu schreiten, du hältst den Kopf schief, du stellst Fragen, anstatt zu antworten …«
    »Ist ja gut«, sagte Sidonie. »Was, wenn ich lernen will, mich wie eine Dame zu benehmen?«
    »Ganz einfach«, sagte Friedo. »Ich bringe es dir bei.«
    »Was muss ich dafür tun?«
    Friedo stellte sein Weinglas ab.
    »Die Frage ist, Verehrteste, was du mit deinem Fratz zu tun gedenkst. Ich fürchte, du musst dich entscheiden.«

    Sie sah zu ihm auf, er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie zum ersten Mal die helle Narbe zwischen Mund und Nase sehen konnte.
    »Das muss ich mir noch überlegen«, sagte sie. Und im gleichen Moment, als sie Schritte auf der Treppe hörte, die zweifellos Perditas waren, folgte sie dem seltsamen Wunsch, Friedo zu küssen. Während Perdita sich näherte, legte Sidonie eine Hand an seine glatt rasierte Wange. In aller Ruhe küsste sie seine geschlossenen Lippen und ließ ihn los, als Perdita vom Flur her nach ihm rief. Sie wandte sich ab und freute sich im Stillen darüber, dass sie ihn überrascht hatte.
    Es störte sie nicht im Geringsten, dass Perdita sich in seine Arme stürzte, dass sie ihn umschlang und ihr Rouge an seinem Halstuch Spuren hinterließ, die nicht ganz einfach zu entfernen sein würden. Es ließ Perdita so viel kleiner erscheinen, dass sie glücklich war. Sidonie betrachtete Friedos Nacken, an dem Perditas Hand hinaufkroch, um in seinem dichten braunen Schopf Halt zu finden.
    »Was habt ihr hier ohne mich zu besprechen?«, murmelte sie.
    »Unsere Zukunft«, sagte Friedo. Er legte seine Hand auf ihren Hintern und zog sie an sich. »Deine und meine, mit unseren besten Mädchen.«
    »Das höre ich gern«, sagte Perdita. »Sieh her, ich hab für Celestine vier Silbertaler verlangt. Und? Ich hab sie bekommen! Was sagst du dazu?«
    »Du bist ein Glücksfall«, sagte Friedo über ihren Kopf hinweg.
    Sidonie trank das Weinglas in einem Zug leer und stellte es behutsam zurück auf den Tisch.
    »Kann ich die Zeitung ausleihen?«, fragte sie.

    »Mach, was du willst«, schnurrte Perdita, »Hauptsache, du verschwindest.«
    Während Friedo Perdita ein zweites Mal an diesem Tag mit Körperlichkeiten erfreute, saß Sidonie in die klumpigen Kissen ihres Bettes gestützt und hielt die Zeitung ins rußende Nachtlicht. Das Lesen hatte ihr eines von Perditas vormaligen Mädchen beigebracht, eine

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