Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
beobachtet. Sie war eine noch junge Frau, verführerisch und von fröhlichem Gemüt, deren Figur unter den vielen Schwangerschaften nicht sehr gelitten hatte. Sie hieß Anne und war die Tochter eines angesehenen Fechtmeisters, der seine Schülerschaft auf der Île de la Cité unterwies. La Fargue begrüßte auch sie, als er an ihr vorbeiging, aber diesmal zog er den Hut.
»Guten Tag, Madame.«
»Seid gegrüßt, Hauptmann. Ein schöner Tag heute, nicht wahr?«
»Da habt Ihr recht. Wisst Ihr, wo sich Euer Mann aufhält?«
»Im Fechtsaal. Er erwartet Euch bereits, glaube ich … Esst Ihr mit uns zu Mittag?
»Sehr gern, Gnädigste. Ich danke Euch.«
La Fargue wollte gerade sein Pferd im Stall anbinden, da hörte er: »Da wird Euch mein Papa aber ausschimpfen.«
Er drehte sich um und erblickte die kleine Justine, die ganz aufrecht auf der Schwelle stand, aber nicht hereinkam. Zweifellos hatte man ihr verboten, sich den Pferden zu nähern.
Neugierig runzelte der alte Hauptmann die Stirn.
Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass jemand einen Mann seines Schlags »ausschimpfen« würde, doch die Kleine war noch in einem Alter, in dem man seinen Vater für unbesiegbar hielt.
»Er wird mich also ausschimpfen. Warum denn das?«
»Mein Papa war sehr besorgt. Genau wie meine Mama. Sie haben bis spät in die Nacht auf Eure Rückkehr gewartet.«
»Und wie kommt es, dass du davon weißt, kleines Fräulein?«
»Ich habe gehört, wie sie sich darüber unterhalten haben.«
»Warst du etwa nicht in deinem Zimmer?«
»Doch.«
»Wieso hast du denn dann zu dieser späten Stunde nicht geschlafen, wie es sich für kleine brave Mädchen in deinem Alter gehört?«
In ihrem Ungehorsam ertappt, dachte Justine angestrengt nach. »Hab ich doch«, sagte sie dann trotzig.
La Fargue verkniff sich ein Lächeln. »Du hast also deinen Vater und deine Mutter reden gehört, obwohl du in deinem Zimmer geschlafen hast …«
Doch die Kleine war nicht auf den Mund gefallen und erklärte listig: »Es ist nun mal so, dass ich sehr gute Ohren habe.«
Daraufhin drehte sie sich würdevoll um und machte sich aus dem Staub.
Kurz darauf verließ La Fargue den Stall.
Unter dem Apfelbaum interessierte sich Justine nur noch für ihre Puppe, die sie gerade zu tadeln schien. Der Vormittag war schon fast vorüber. Die Sonne brannte heiß herunter,
und das dichte Blätterdach über dem Hof spendete angenehme Kühle. Das Getöse der dicht bevölkerten Straßen von Paris nahm man hier nur als ein fernes Murmeln war.
Im Fechtsaal traf La Fargue auf den jungen Martin – ältester Sohn und Vorsteher der Delormel’schen Fechtschule. Er erteilte gerade Einzelunterricht, während ein Bursche den Boden wischte. Der Raum war fast leer, nur an den nackten Wänden standen drei schlichte Bänke, ein Schwertständer und in der Ecke ein Holzpferd, mit dem der berittene Fechtkampf trainiert werden konnte. Außerdem gab es eine Galerie, die über eine steile Treppe zugänglich war und von der aus man den gesamten Übungssaal bequem überblicken konnte. Der Fechtmeister stand an der Balustrade. Als er den Hauptmann eintreten sah, wirkte er sehr erleichtert. La Fargue stieg die Treppen hinauf, um seinen alten Kameraden zu begrüßen, und warf Martin im Vorbeigehen ein freundschaftliches Lächeln zu. Der junge rothaarige Mann gab seinem Schüler den Takt der Bewegungen vor, indem er mit einem großen Stock auf den Boden klopfte.
»Ich bin erfreut, dich zu sehen, Hauptmann. Wir haben dich bereits erwartet.«
Trotz der Umstände hatte Delormel nie aufgehört, La Fargue bei seinem Dienstgrad zu nennen. Zweifellos geschah es aus Gewohnheit, aber wohl auch, um deutlich zu machen, dass er den Befehlsentzug niemals anerkannt hatte.
»Die halbe Nacht lang, ich weiß. Das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Es tut mir aufrichtig leid.«
Der andere sah ihn überrascht an. »Dir zu Ohren gekommen? Wie denn das?«
»Durch deine Tochter. Die Jüngste.«
Über das Gesicht des Fechtmeisters huschte ein zärtliches
Lächeln. »Dieses kleine Teufelchen. Ihr entgeht wirklich nichts …«
Der groß gewachsene Delormel mit den breiten Schultern war einer der Fechtmeister, die als Soldat gedient hatten und die das Fechten eher als praktische Übung betrachteten, nicht so sehr als Wissenschaft. Eine Narbe klaffte an seinem Hals; eine andere zeichnete eine helle Furche quer über die Stirn. Aber das auffälligste Merkmal war das dichte rote Haar, das er von seinem Vater
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