Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
noch ein zartes Kind gewesen war, abgemüht und mit zwei Händen das Schwert angehoben, das fast so groß war wie sie selbst. Aber ein kleineres zu nehmen, war für sie nie in Frage gekommen.
Der Schrei einer Wyverne durchdrang die Stille.
Agnès zog ihre Stiefel an, erhob sich und schlüpfte in ihr ledernes Mieder, das sich vorn zusammenschnüren ließ. Dann warf sie sich den Degengurt locker über die Schulter, so dass das Rapier in seinem Futteral ihr quer über den Rücken hing. Sie trat hinaus auf den Hof, der von den ersten Schatten des Abends heimgesucht wurde.
Der Reiter der Wyverne war bereits gelandet und abgestiegen, das große weiße Flugtier hatte die enormen Flügel angelegt. Die Farbe der Wyverne und die Uniform des Reiters ließen keinerlei Zweifel: Es handelte sich um königliche Post. Sie musste direkt aus dem Louvre kommen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er auch wirklich die Baronin de Vaudreuil vor sich hatte und daraufhin respektvoll salutierte, überreichte er ihr einen Brief aus der Satteltasche des großen Reptils.
»Danke. Wird eine unverzügliche Antwort erwartet?«
»Nein, Madame.«
Als Marion auf der Küchenschwelle erschien, schickte Agnès den königlichen Boten zu ihr, damit sie ihm, bevor er weiterflog, ein Glas Wein servieren konnte. Der Mann bedankte sich und ließ Agnès mit der folgsamen und friedlichen Wyverne zurück, die sich den langen Hals verdrehte, um mit sanftmütigen Augen die Umgebung zu erkunden.
Agnès erbrach das Siegel des Kardinals und begann zu lesen.
»Was ist denn das?«, fragte Ballardieu, der neugierig hinzugetreten war.
Sie antwortete nicht sogleich, doch schließlich wandte sie ihm das Gesicht zu.
Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte sie.
27
Der Abend war bereits angebrochen, als die drei Reiter die Porte de Buci passierten und in den weitläufigen und verschlafenen Vorort rund um die Abtei Saint-Germain vordrangen. Sie schlugen die Route über die Rue du Colombier ein und bogen kurz darauf in die Rue des Saints-Pères , ritten am Friedhof der reformierten Kirche vorbei und bogen dann beim Hôpital de la Charité in die Rue Saint-Guillaume ein.
»Da sind wir«, sagte La Fargue und stieg aus dem Sattel.
Marciac und Almadès sahen gleichzeitig zu dem Torweg, vor dem sie angehalten hatten – dort befand sich ein massives, zweiflügeliges Tor, verziert mit Holztafeln, die mit gro ßen Nägeln befestigt waren. Dann stiegen sie aus dem Sattel, und während ihr Hauptmann dreimal den schmiedeeisernen Türklopfer betätigte, betrachteten sie die beschauliche kleine Straße, die sich auf halbem Wege zur Rue Saint-Dominique gabelte.
Im gold-roten Abendlicht war die Gasse schon fast menschenleer, und die Händler packten bereits ihre Stände zusammen. Langsam mischte sich Küchengeruch unter den Gestank der verschmutzten Stadt. Etwas weiter die Straße hinunter diente ein Bündel Heu als Wirtshausschild.
»Hier hat sich kaum etwas verändert«, sagte der Gascogner.
»Stimmt«, antwortete der spanische Fechtmeister einsilbig.
In einem Flügel des massiven Tors befand sich eine kleine Pforte für Fußgänger. Sie wurde einen Spalt weit geöffnet, und dahinter erklang eine Stimme, die fragte: »Wer ist da?«
»Besucher«, antwortete La Fargue.
»Werden sie erwartet?«
»Sie wurden herbeordert.«
Angesichts dieser seltsamen Unterhaltung lächelte Marciac voll Nostalgie.
»Vielleicht sollte man diesen Sesam doch einmal ändern«, murmelte er an Almadès gerichtet. »Immerhin sind mittlerweile fünf Jahre vergangen …«
Almadès verzog das Gesicht: Momentan war schließlich einzig wichtig, dass man ihnen überhaupt öffnete.
Als das geschehen war, traten sie einer nach dem anderen ein und zogen ihre Pferde, die den Kopf senken mussten, um durch die Pforte zu gelangen, an den Zügeln hinter sich her. Als sie den Hof betraten, erschallte das Echo der Hufe auf dem Steinpflaster von den Hauswänden.
Das alte Gebäude war von strenger, klobiger Architektur und aus massivem grauen Stein. Es war von einem unerschütterlichen Hugenotten kurz nach der Bartholomäusnacht erbaut worden und erinnerte an eines der alten Herrenhäuser, deren Mauern ein einziges Bollwerk und deren Fenster lediglich Schießscharten waren. Eine hohe Mauer trennte den Hof von der Straße. Zu seiner Rechten erhob sich ein schon etwas verwittertes Nachbarhaus. Gegenüber befand sich ein Pferdestall mit Heuboden, und zur Linken erstreckte sich im rechten Winkel dazu
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