Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
Versuch gewinnt! Sechs Bälle für einen Sou! Der pure Zufall entscheidet!«
Derjenige, der sich da heiser schrie, bot ein Lotteriespiel an. Er drehte ein Rad, und vor ihm lagen die Preise, die man gewinnen konnte: ein Kamm, ein Spiegel, ein Schuhlöffel – bei näherem Hinsehen war alles nur billiger Plunder. Doch Ballardieu musste unbedingt sein Glück versuchen und gewann sogar eine Tabakdose mit losem Deckel. Er wollte sie gerade stolz der jungen Baronin zeigen, der allmählich der Geduldsfaden riss, als ein Trompetensignal erschallte.
Neugierig verrenkten sich die Menschen die Hälse, und ein Raunen ging durch die Menge.
Vom linken Seineufer kamen Soldaten des Regiments der Französischen Garde herüber und bahnten sich einen Weg durch das Getümmel. Sie verscheuchten Kutschen und Reiter von der Straße, drängten die Fußgänger auf die Trottoirs zurück und nahmen dann in einer Reihe Haltung an. Tamboure schlugen die Trommel, als die Schweizer Garde und schließlich eine Reihe von Reitern, Offizieren, Hohen Herren und Höflingen vorbeizogen. Ihnen folgten zu Fuß Pagen in der königlichen Livree, und zu beide Seiten des Zugs marschierten Schweizer Soldaten mit ihren berüchtigten Hellebarden. Schließlich folgte die über und über mit Gold verzierte Kutsche des Königs. Sie wurde von sechs stattlichen Rössern gezogen und von einer Eskorte aus Edelmännern flankiert. War es wirklich der König selbst, dessen Profil man da im Inneren erahnte? Womöglich. Die Kutsche wurde von einem Wald aus Piken und Musketen abgeschirmt. Keiner traute sich zu jubeln, man zog nur stumm den Hut und hielt sich respektvoll im Hintergrund. Weitere Kutschen folgten. Eine davon trug kein Wappen und war ebenso blütenweiß wie das Gespann. Sie gehörte der Mutter Oberin vom Orden der Schwestern des Heiligen Georgs – den berühmten ›weißen Ordensfrauen‹, die nun schon seit zwei Jahrhunderten den Französischen Hof vor der Bedrohung durch die Drachenkaste schützten.
Wie alle anderen war auch Agnès stehen geblieben, still und mit gezogenem Hut. Doch nicht die königliche Karosse hatte es ihr angetan. Gebannt starrte sie auf die strahlend weiße Kutsche und konnte den Blick nicht abwenden. Als sie an ihr vorbeifuhr, schob eine Hand in einem blütenweißen
Handschuh den Vorhang zur Seite, und das Antlitz einer Frau wurde sichtbar. Die Augen der Mutter Oberin schweiften nicht lange umher, sondern hefteten sich sogleich auf Agnès. Während sich ihre Blicke trafen, sträubte sich die Zeit voranzuschreiten, als wolle sie diesen stillen Austausch zweier Seelen nicht unterbrechen.
Dann war die Kutsche vorbeigeglitten.
Die Wirklichkeit pochte auf ihr Recht, und das Hufgetrappel des Gefolges verhallte allmählich in der Ferne. Das Regiment der Französischen Garde gab die Gehsteige wieder frei und zog in Reih und Glied ab. Das gewöhnliche Treiben auf der Pont-Neuf setzte wieder ein.
Allein Agnès verharrte wie gebannt und blickte zum Louvre hinüber.
»Das war vielleicht ein Blick! Dem hätte ich nicht begegnen wollen«, sagte Ballardieu. »Geschweige denn ihm standhalten können …«
Die junge Frau zuckte ungerührt mit den Schultern. »Das erspart mir wenigstens den Weg in den Louvre.«
»Willst du gar nicht mit ihr reden?«
»Nicht heute … Warum auch? Sie weiß, dass ich zurück bin. Das genügt.« Entschlossen, nun an etwas anderes zu denken, lächelte sie den alten Soldat an. »Also«, sagte sie aufmunternd, »wollen wir gehen?«
»Wohin?«
»Na, Tabarin und Mondor zusehen natürlich!«
»Bist du sicher?«
»Ich habe es dir doch versprochen, oder nicht?«
12
Sie erreichten die Kappelle am späten Nachmittag.
Die Kirche erhob sich mitten im Nirgendwo, wo eine verlassene Straße einen kleinen, steinigen Pfad kreuzte. In Blickweite zog eine Schafherde vorüber. Das Markanteste an dieser friedlichen Landschaft aus weichen, grünen Hügeln war eine Mühle, deren Flügel sich langsam und gemächlich im Wind drehten.
»Da sind wir«, rief Bailleux, als sie den Waldessaum erreicht hatten.
Saint-Lucq und er ritten nebeneinander, aber das Mischblut würdigte die Kapelle keines Blickes, sondern sondierte aufmerksam die Umgebung.
Es hatte eine Staubwolke entdeckt.
»Wartet«, befahl es seinem Begleiter.
Die Staubwolke kam näher.
Nun erkannte man auch schon eine Gruppe Reiter, die die Straße entlanggetrabt kam. Es waren vier an der Zahl, vielleicht auch fünf, und alle waren mit Degen bewaffnet. Es war nicht das
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