Wiener Schweigen
auf.
Nur Ludwig fuhr nicht mit seiner Serviettenfalterei fort. »Und was ist, wenn es kein Kürzel, sondern eine andere Sprache ist?«
»Ja«, meinte Yvonne, » ›to infer‹ heißt im Englischen ›auf etwas rückschließen, etwas folgern‹. Könnte das hinkommen?«
»Oder es ist wirklich ein ganz spezieller Code nur für dich?« Johanna befestigte einen Stern an der Wand. »Paare haben doch oft eine eigene Sprache. Hast du im Übrigen gewusst, dass das ganz besonders beziehungsfördernd ist? Und wo wir gerade von zwischenmenschlichen Beziehungen reden: Gehst du jetzt mit diesem Mühlböck aus?«
»Habt ihr auch etwas Gegrilltes vorbereitet?«, rief Rosa schnell und hoffte, dass niemand Johannas Frage gehört hatte.
»Ja, irgendein totes Tier«, antwortete Yvonne, die strikte Vegetarierin war.
Liebhart und Magda trafen so spät ein, dass Rosa schon geglaubt hatte, sie würden gar nicht mehr kommen. Sie winkte den beiden zu und zeigte auf einen freien Tisch. Nachdem sie Platz genommen hatten, wurde Magda von Johanna in ein Gespräch verwickelt.
»Es tut mir leid, dass ich nicht zu erreichen war. Aber jetzt, wo wir diese Autodiebe gefasst haben, können Schurrauer und ich uns in Kürze voll auf den Fall Kobald/Zieliński konzentrieren.«
Während die Lampions sanft im leichten Abendwind schaukelten, erzählte Rosa von ihrer Entdeckung im Bezirksmuseum.
»Die Menschen, die die Toten vergraben haben, nahmen also in Kauf, dass die Leichen über die damals noch zugänglichen Sandgruben leicht wieder ans Tageslicht kommen konnten«, resümierte Liebhart und nippte an seiner Bowle.
Rosa nickte: »Das legt den Schluss nahe, dass sie es eilig hatten, die Leichen zu verscharren, und dass sie keine große Sorge hatten, dass jemand aus dem Dorf dort oben herumschnüffeln und das Grab entdecken würde.«
»Weil es unter Umständen alle im Dorf gewusst haben und keiner heiß darauf war, das dunkle Geheimnis wieder aufzudecken«, vollendete Liebhart ihre Gedanken. »Diese Nachricht aus dem Brustkreuz … Ich denke, wir müssen von einem Verbrechen ausgehen, das 1919 im Kahlenbergerdorf verübt wurde, und das Wissen um diese Tat wurde über die Kinder an die Enkelkinder weitergegeben. Es muss etwas unvorstellbar Grausames gewesen sein, wenn die Bewohner noch heute alles dafür tun, es geheim zu halten …«
In der Mitte des Hofes, weitab von der beige gestrichenen Holzvertäfelung des Speisesaales, gloste eine offene Feuerstelle. Ein metallener Grillrost lag darauf, und der Geruch von pikant gewürztem Fleisch stieg verführerisch auf.
»Ich bin mit dem Tagebuch durch«, wechselte Rosa das Thema. »Andrzej hat der alten Frau Zehetmair einen Besuch abgestattet, bevor sie verbrannt ist. Er war auch bei ein paar anderen Familien im Kahlenbergerdorf, die er verdächtigt hatte, mit der Ikone etwas zu tun zu haben. Ihre Namen sind: Ritzberg, Hofmacher, Setzensberger, Brandstätter.«
»Denen statten wir morgen einen Besuch ab. Da ist Sonntag, die Chance, sie zu Hause anzutreffen, ist dann größer.«
»Habt ihr schon eine Übersetzung des botanischen Atlasses bekommen?«
»Leider nein, es gibt auch keine. Deswegen wird das Buch jetzt übersetzt, das wird aber mit Sicherheit noch einmal etwas dauern.«
»Was hat denn die Feuerwehr zur Brandursache im Haus der Zehetmair und im Pfarramt gesagt?«, wollte Rosa wissen, kannte aber die Antwort bereits.
Liebhart schnaubte verächtlich. »Natürlich haben sie alles gründlich untersucht und keinen Hinweis auf Brandstiftung gefunden. Im Pfarramt sollen eine defekte Gasleitung und das Teelämpchen unter einem Stövchen die Explosion verursacht haben.« Er wandte sich seiner Frau zu, die ihn sanft auf den Arm getippt hatte.
Der rechteckige Himmel, gefangen zwischen den Mauern des »Wilden Hundes«, wurde von großen Sternen durchlöchert. Die Nacht war so klar, dass Rosa sogar die Milchstraße wie einen dünnen Schleier erkennen konnte. Aus dem Speisesaal im hinteren Teil des ehemaligen Gasthauses drang Musik. Die Fenster waren weit geöffnet, die bis zum Boden reichenden Glastüren aufgezogen und zusammengefaltet worden.
Liebhart war seiner Frau auf die Tanzfläche gefolgt. Rosa beobachtete die beiden, wie sie sich zur Musik im Kreis drehten. Sie dachte an Daniel Mühlböck und stellte sich vor, dass sie mit ihm unter den weit ausladenden Bäumen tanzen würde.
Bevor Rosa das Ganze zu romantisch wurde, schüttelte sie verärgert den Kopf. Ich bin wohl schon etwas
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