Wiener Schweigen
Fenster sehen konnte. Sie streifte noch einige Zeit durch die Räume, beugte sich über Vitrinen und genoss die Kühle im »Salon«, dessen Fenster durch hohe Laden geschlossen waren und in dem sich noch die Originaleinrichtung der Zeit um die Jahrhundertwende befand.
Kurz bevor sie das Museum verlassen wollte, fiel ihr Blick im »Industriezimmer«, wo Bilder und Erzeugnisse von ehemaligen Döblinger Industriebetrieben ausgestellt waren, auf eine Ansicht des Kahlenbergerdorfes und des Hangs des Leopoldsberges um 1900. Sie war schon zweimal durch den Raum gegangen, ohne der naiven Darstellung eines unbekannten Künstlers große Beachtung zu schenken. Ein kurzer Text neben dem Bild erklärte, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Kahlenberg Aktiengesellschaft große Teile der Region erworben hatte.
Rosa konnte auf dem Bild erkennen, dass am Leopoldsberg Sand für den Bau der Ringstraße abgetragen worden war. 1865 wurden die Ringstraße eröffnet und die Sandgruben stillgelegt. Die Wunden, die der Abbau dem Berg zugefügt hatte, blitzten am dicht bewaldeten Hang noch fünfzig Jahre später deutlich hervor. Rosa spürte, wie sie unruhig wurde, endlich hatte sie etwas über das Dorf um die Zeit, in der die Nachricht aus dem Brustkreuz geschrieben worden war, gefunden.
Als sie im Auto Richtung Brunn saß, überlegte Rosa, dass die Totengräber es sich einfach gemacht hatten. Statt die Leichen im schwer auszuhebenden Waldboden zu vergraben, hatten sie sie vermutlich einfach in eine ehemalige Sandgrube geworfen und diese dann zugeschüttet.
»Oder jemand hatte es verdammt eilig, die Leichen loszuwerden«, überlegte sie laut und fuhr auf die Autobahn auf.
Gelbe, grüne und rosafarbene Lampions schaukelten an dünnen Schnüren, die zwischen drei riesigen Kastanienbäumen im Hof des »Wilden Hundes« gespannt waren. Auf Heurigentischen waren bunte Tücher ausgebreitet, auf denen Teller und Gläser standen.
Ludwig übte sich konzentriert in der Kunst des Serviettenfaltens, während Yvonne getrocknete Blumen auf Pappbecher klebte. Sie war tadellos geschminkt und wippte unter dem Tisch ungeduldig mit den Füßen, die in türkisenen Sandalen steckten.
Erna Peier, eine füllige Frau mittleren Alters, trug ein zeltförmiges Kleid mit gewagtem Ausschnitt und einem Blumenaufdruck, dessen Farbzusammenstellung aussah, als sei ein Clown mit ein paar Buntstiften Amok gelaufen. Rosa war sich sicher, dass sich ihre Netzhaut ablösen würde, wenn sie länger auf den Stoff blicken würde. Johannas Schützlinge schwirrten durch den großen Hof und warfen sich ab und zu Sätze in ihren Muttersprachen zu. Da und dort erklang Lachen, und es roch nach einem köstlichen Eintopf aus Gemüse, Fleisch und scharfen exotischen Gewürzen.
Rosa hatte das Tagebuch von Andrzej Zieliński fertig gelesen und wollte Liebhart, der mit seiner Frau Magda kommen sollte, von ihren Erkenntnissen berichten. Andrzej war auf der Suche nach der Ikone ins Kahlenbergerdorf gekommen. Warum er das Bild gerade dort vermutet hatte, stand leider nicht in seinen Aufzeichnungen. Rosa hoffte, mehr von Frau Zieliñska zu erfahren, die am Montag kommen sollte, um seinen Leichnam mit nach Hause zu nehmen.
Sie befestigte mit Johanna große Strohsterne an den grün gestrichenen Holzwänden des ehemaligen Speisesaales, als diese fragte: »Und er ist einfach so auf deinem Handtuch gesessen?«
»Ja, ich habe, als ich bei ihm war, beiläufig erwähnt, dass ich im Sommer oft im Sellnersee schwimmen gehe«, antwortete Rosa und band eine lila Schleife um einen Stern.
»Ja, genau, beiläufig«, rief Yvonne von ihrem Tisch herüber.
»Wie meinst du das?« Rosa drehte sich zu ihr um.
»Wie lange bist du eigentlich nicht mehr mit einem Mann ausgegangen?«, antwortete Johanna an ihrer Stelle.
»Was heißt ›ausgehen‹? Ich bin dauernd mit Liebhart und Schurrauer unterwegs«, erwiderte Rosa dumpf, das Gespräch behagte ihr nicht.
»Ich meine ausgehen , nicht arbeiten.«
»Ach so, das«, brummte Rosa und widmete sich konzentriert ihrem Strohstern.
Sie versuchte die Blicke, die in ihrem Rücken brannten und auf eine Antwort warteten, zu ignorieren.
»Keine Ahnung«, erklärte sie schließlich. »Seit acht Millionen Jahren nicht mehr … Was mich im Moment mehr interessiert«, fügte sie lauter hinzu, »ist, was Paul mit dem eigenartigen Kürzel ›Gen. 16,1; Infer.‹ gemeint hat.«
Sie hörte, wie alle wieder ihre Tätigkeit aufnahmen, und atmete erleichtert
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