Wienerherz - Kriminalroman
Bruder anzusehen.«
Selbst der sonst offenere Tann-Dorin behielt ein Pokerface bei.
Freund legte die Mappe mit den Fotos auf den Tisch und öffnete sie.
»Bitte schauen Sie diese Aufnahmen genau an.«
Er lehnte sich zurück, als Signal, dass die vier selbst zugreifen sollten.
Der Vater zögerte nicht und nahm das oberste. Der Rest der Familie folgte seinem Bespiel.
Minuten vergingen. Sie tauschten die Bilder untereinander. Betrachteten manche länger, legten andere schnell wieder weg oder gaben sie weiter.
In Freunds Hosentasche vibrierte das Telefon. Er erhob sich, stellte sich etwas abseits, behielt die Dorins dabei im Auge.
»Bitte?«, fragte er leise.
Am anderen Ende meldete sich die Interne Ermittlerin.
»Wir müssen Sie noch einmal sprechen«, sagte sie.
»Ich habe hier einen Fall zu lösen!«, zischte er ins Telefon.
Tann-Dorin schielte kurz zu ihm herüber.
»Wir auch«, antwortete die Frau.
»Da ist kein Fall, das versichere ich Ihnen! Ich habe Ihnen doch alle Daten gegeben. Wenn Sie die überprüft haben, sehen Sie, dass die Anschuldigungen aus der Luft gegriffen sind.«
»Es gibt neue Vorwürfe gegen Sie.«
»Das … ich glaube es nicht!«
Er verspürte den unbändigen Drang, besinnungslos etwas zu zerschlagen, auf etwas einzudreschen, wie ein Irrer loszurennen, etwas in der Art. Vielleicht war Claudias Idee mit dem Sport doch nicht so schlecht.
»Das ist lächerlich.«
»Wir müssen darauf bestehen. Sonst werden Sie vom Dienst entbunden.«
»Wann soll ich kommen?«, fragte Freund resigniert. Jemand saß da an einem langen Hebel.
»Wann erlaubt es Ihr Fall denn?«
»Gar nicht. Sagen wir morgen um elf.«
»Bis dann.«
Freund kehrte an den Tisch zurück. Er spürte, wie er vor Wut zitterte. Mit schmalen Lippen ließ er sich nieder, versuchte, sich zu beruhigen. Die Dorins brüteten immer noch über den Aufnahmen. Wie bei den anderen hatte Freund die Fotos mit den Verletzungen weggelassen. Er beobachtete die Gesichter. Aber außer aufmerksamer Konzentration konnte er darin keine Emotionen lesen.
Als Erster sagte Viktor etwas. Er beugte sich zu seinem Bruder, zeigte auf das Bild, das er gerade hielt, und raunte Leopold etwas zu. Leopold sah hin und zog die Brauen zusammen. Dann nahm er Viktor das Bild ab und hielt es näher vor sein Gesicht. Er gab es weiter an seine Mutter, flüsterte. Vater Dorin wurde aufmerksam. Sie zeigte das Bild auch ihm, sprach so leise, dass Freund es nicht hören konnte. Der Alte wiegte zweifelnd seinen Kopf. Leopold Dorin untersuchte inzwischen ein anderes Bild genauer. Wie Freund erkennen konnte, war es das der linken Hand.
»Ich weiß nicht, worauf das hier hinauslaufen soll«, sagte Tann-Dorin. »Aber wenn es das ist, was ich momentan vermute, mache ich den Anfang.«
Er legte das Foto der Hand auf den Tisch, sah seine Familie an, weniger um ihr Einverständnis zum Sprechen einzuholen, eher mit einem Quäntchen Ärger, dass niemand anderes es tun wollte, dann wandte er sich an Freund.
»Ich bin ziemlich sicher, dass, als ich Florian zum letzten Mal sah, er am linken Zeigefinger ein Pflaster trug. Er erzählte, dass er sich geschnitten hatte.«
Freund versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Das muss vier, fünf Tage vor seinem Tod gewesen sein«, fuhr Tann-Dorin fort. »Müsste man auf diesem Bild nicht etwas davon sehen?«
»Eigentlich schon«, sagte Freund. »Sind Sie sicher, dass es so war?«
»Ja.« Er nickte zur Bekräftigung. »Kommen wir zur zweiten Sache«, sagte Tann-Dorin. Wieder der Blick zur Familie.
»Ich glaube, die anderen haben es auch gesehen, selbst wenn wir jetzt noch nicht gemeinsam darüber gesprochen haben.«
Er nahm das andere Bild, das zuvor unter Tuscheln weitergereicht worden war. Freund erkannte den linken Arm.
»Man muss sehr genau hinsehen und es wissen, sonst fällt es kaum auf. Als Kind focht Florian ein paar Jahre mit dem Florett. Einmal blödelte er mit einem Freund und verletzte sich am Arm. Die Verletzungen waren nicht schlimm, es blieb nur eine winzige Narbe zurück.«
Er tippte auf den Ausdruck.
»Sie müsste etwa da sein. Ich sehe aber keine Narbe.«
Hatte Ihr Sohn charakteristische Merkmale? Warum hätte Freund die Dorins bei der Identifizierung fragen sollen, nachdem sie Florian bereits am Gesicht erkannt hatten? Genau deshalb.
Tann-Dorin fixierte Freund.
»Sie haben mir dieses Bild von einem Mann gezeigt, der wie Florian aussieht …«
»Was für ein Bild?«, unterbrach ihn Leopold.
»Ihr
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