Wienerherz - Kriminalroman
hätte sich schon fast um den Präsidenten gesorgt, wenn er sich in diesem Fall nicht nach jeder Neuentwicklung sofort erkundigt hätte. Woher hatte er seine Informationen?
»Aber richtig diesmal«, erwiderte Freund. »Seine Büromitarbeiterin wurde böse zusammengeschlagen.«
Der Pepe trat ein.
»In seine diversen Anwesen wurde eingebrochen«, fuhr Freund fort. »Wertgegenstände haben die Eindringlinge aber nicht angerührt.«
Er sagte nichts von seinen Plänen, Dorins Konten einsehen zu wollen.
Der Pepe betrachtete kopfschüttelnd die Kartonberge.
»Hier schaut es aus.«
»Nach Arbeit«, sagte Varic.
»Gibt es Hinweise?«
»Im Schloss wurden die Einbrecher gefilmt. Aber die Bildqualität ist miserabel. Wird uns nichts bringen. Ich gebe es in die Technik, vielleicht können die noch ein bisserl rausholen. Ansonsten müssen wir auf die Ergebnisse der Spurensicherung warten. Und dass Dorins Mitarbeiterin wieder ansprechbar ist.«
Der Pepe seufzte.
»Ich hatte mir das wirklich anders gewünscht.«
»Wir auch, Herr Präsident«, sagte Freund und schielte auf die Schachteltürme. »Wir auch.«
Kleine Wellen
In gewisser Weise hatte er die Besuche bei seinem Vater schätzen gelernt. Seit der Alte endgültig in der Welt des Vergessens versunken war und professionell betreut wurde, gewannen die abendlichen Aufenthalte für Freund einen fast kontemplativen Charakter. Sie mussten nicht viel miteinander reden. Freund schilderte seinen Tag, sein Vater saß da und löffelte seine Suppe. Manchmal machte er eine Bemerkung, die überhaupt nicht zu Freunds Erzählungen passte. Wie früher, dachte Freund in solchen Momenten, wir haben immer aneinander vorbeigeredet. Nur dass es heute nichts mehr bedeutete. Dem alten Mann bei seinen zittrigen und doch entschiedenen, fast gierigen Bewegungen zuzusehen, mit denen er den Löffel zum Mund führte, war beinahe, wie aufs Meer zu schauen, wenn kleine Wellen in regelmäßigen Versuchen den flachen Sand hochleckten. Bevor sie die Kinder bekommen hatten, konnte Freund im Urlaub stundenlang so am Strand sitzen und den Kopf dabei völlig leeren. Meistens mit einer Sonnenbrille und einem Buch auf dem Schoß, damit er dabei nicht zu komisch aussah. Heute blieb ihm dazu keine Zeit, aber er vermisste es auch nicht, im Gegenteil. Mit den Kindern durch den Sand zu tollen, Boccia zu spielen, in den Bergen zu wandern, ihnen eine Stadt zu zeigen lud seine Batterien genauso gut. Der Blick auf das Meer hatte ihn beruhigt. Claudia und die Kinder machten ihn glücklich.
Von der Wohnung seines Vaters zu ihnen nach Hause musste er nur mehr den Wienfluss queren, der mit »Fluss« erstens deutlich überbezeichnet und in diesem Abschnitt außerdem unsichtbar, weil mit dem Naschmarkt überbaut war. Über den dämmrigen und doch hellblau leuchtenden Himmel zogen ein paar rosarote Wolken und kündigten auch für morgen einen prächtigen Altweibersommertag an. Freund fragte sich, wie es jetzt den Kindern von Florian Dorin ging und seinen Eltern. Nach den heutigen Ereignissen würde er womöglich doch noch den alten Dorin und seine Frau sprechen müssen. Er schob den Gedanken zur Seite, als er einen Parkplatz fand, und freute sich auf den Abend mit seiner Familie.
Im Bett nahm er sich den zweiten Schwung von Cornelius Dorins Briefen her. Bis weit nach Mitternacht war er am Vorabend in die Lektüre versunken, schließlich hatte Claudia ihm die Lesebrille von der Nase gepflückt, weil er bereits schlief.
Wie in der Familienchronik beschrieben, war Cornelius Dorin seinen sehr eigenen Weg gegangen. Er hatte sich gänzlich von seiner Sippe losgesagt. Offenbar hatte er sogar seinen Namen geändert. Als Absender in den Schreiben an die Mutter unterzeichnete er allerdings mit Cornelius. Seine Situation deutete er nur an. Anfangs klang er noch zuversichtlich und kämpferisch. Immer wieder nahm er auf Ereignisse aus der familiären Vergangenheit Bezug, über die Freund nur Mutmaßungen anstellen konnte. Er hatte wohl versucht, in den Industrieunternehmen der Familie fortschrittliche soziale Standards einzuführen, ohne jedoch die Widerstände von Vater und Bruder überwinden zu können.
Im dritten Brief war bereits die Börsenkrise vom Oktober 1929 Thema, Cornelius, der gelernte Bankkaufmann, bewunderte widerwillig, wie seine Verwandten die eigene Bank nicht nur bewahrt, sondern durch geschicktes Taktieren sogar gestärkt hatten. Gleichzeitig warnte er vor den Folgen der Ereignisse für die breite
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