Wienerherz - Kriminalroman
Bevölkerung.
»Das ist erst der Anfang«, schrieb er, und Freund musste an die gegenwärtige Lage denken, von der viele Fachleute meinten, dass sie noch längst nicht so rosig sei, wie sie wirkte. Hoffentlich sehen wir diesmal ein erfreulicheres Ende, dachte er. Denn Cornelius Dorins Briefe wurden nun düsterer. Er beschrieb, wie die Menschen in seinem Umfeld ihre Arbeit verloren, und machte seinen Verwandten immer heftigere Vorwürfe zu ihrem Lebensstil. Über seine persönliche Verfassung schrieb er wenig, nur sein Ton ließ Freund vermuten, dass sich auch diese drastisch verschlechterte. Besorgt beobachtete der Schreiber, wie die verzweifelten Menschen ihr Vertrauen in die herrschenden Verhältnisse verloren. Klingt ein bisschen wie heute, fand Freund, auch wenn die Ursachen vielleicht andere waren. Dazwischen streute Cornelius wiederholt Appelle an Vater und Bruder, mit ihrem Geld diese Entwicklung nicht auch noch zu fördern.
Angenehm fiel Freund auf, dass Cornelius selbst in seinen Formulierungen und Ansichten bedacht blieb. Obwohl – oder vielleicht weil – noch in der Monarchie aufgewachsen und sogar für den Kaiser in den Krieg gezogen, erwies er sich als überzeugter Anhänger der jungen Demokratie. Zwar zeigte er Sympathien für viele gesellschaftliche Anliegen der Sozialisten, übersah dabei aber nicht, dass auch deren endgültiges Ziel eine Diktatur war, die des Proletariats.
» Auf demokratischem Weg zur Diktatur«, mokierte er sich über ihre Vorstellungen. In einem späten Brief von 1933 bat er seine Mutter, dem Vater zur Übernahme des Bankhauses Feldstein Diswanger & Co durch das Familieninstitut Kertmann & Dorin, von dem Freund in der Familienchronik gelesen hatte, zu gratulieren. Im nächsten Satz forderte er sie auf, dahingehend auf den Vater einzuwirken, dass er den neu gewonnenen Reichtum sinnvoll einsetzen möge. Vergeblich, wie die nächsten Briefe zeigten, in denen er das Ende der Demokratie und die Errichtung der Diktatur durch Dollfuß beklagte.
»Nun kann ich nicht länger parteilos zusehen«, schrieb er. »Auch wenn mich viel von den Gegnern dieser neuen Herrscher trennt, so vereint uns doch die Abscheu vor ihnen, vor ihren Ideen und ihren Taten. Ihnen muss ich mich tätig widersetzen.«
Wie er das im Detail tun wollte, erfuhr Freund auch aus den letzten Briefen nicht. Viel hatte er an den letzten zwei Abenden über die Stimmung jener Zeit erfahren, nichts über den Fall Florian Dorin. Nirgendwo aus den Briefen hervorgegangen war für Freund auch, was Cornelius Dorin überhaupt dazu bewogen hatte, ein so anderes Leben zu führen, als für ihn vorgesehen gewesen war. Nachdenklich legte Freund die Kopien auf sein Nachtkästchen und konnte lange nicht einschlafen.
Zwei nasse Fäden
Den nächsten Tag verbrachte Freund über den Unterlagen, die sie in Dorins Haus, Büro und Schloss sichergestellt hatten. Buchhaltung, Rechnungen, Informationsunterlagen zu verschiedenen Unternehmen, Papierberge. Mit der Lesebrille auf der Nase suchte er in erster Linie nach Bankkonten und Hinweisen auf Leopold Dorins Erzählung. Ob Florian Dorin tatsächlich Geldsorgen hatte – ein absurder Begriff, überlegte Freund dann doch, angesichts eines Schlossbesitzes. Doch weder fand er eine Korrespondenz mit dem Bruder über das Thema noch mit Banken oder Geschäftspartnern, die Geld forderten.
Je älter er wurde, desto mehr schätzte er diese Tage im Büro als Verschnaufpause zwischendurch. Das Eintauchen in die Materie, die Erforschung neuer Gebiete, die Suche nach dem Hinweis, der Stecknadel, waren, wenn man sich darauf einließ, genauso spannend und aufschlussreich wie der Umgang mit Menschen. Wobei sich bald herausstellte, dass selbst dieser Bürotag ihm einige Bewegung abforderte. Bald lief er kreuz und quer durch den Raum, bückte sich, richtete sich wieder auf, bis der ganze Boden mit Papieren bedeckt war. So verschaffte er sich einen ersten Überblick über Dorins Unternehmen.
Am Bürostandort waren zumindest zwei Firmen gemeldet, die MiDo-Consulting GmbH und eine namens Mirabilis, ohne weitere Bezeichnung. Der MiDo konnte Freund drei Konten bei verschiedenen Banken zuordnen, der Mirabilis vier.
Zu insgesamt drei Konten fand er die Auszüge der vergangenen Jahre. Ein schnelles Überfliegen zeigte ihm, dass darüber Miete, Betriebskosten, Gehälter und Ähnliches bezahlt worden waren. Von den zugehörigen Papieren aller sieben Konten fertigte er Kopien an und legte sie in einem Ordner ab.
Als
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