Wienerherz - Kriminalroman
zehn Meter Höhe über dem Gelände gebaut war, sah man die Baumkronen und Dächer einiger Gebäude in der Freudenau. »Dahinter liegen die Trabrennbahn und der Golfplatz. Auf beides hat mich mein Vater früher manchmal verschleppt. Ist aber eine ganz kuriose Anlage, denn der Golfplatz liegt zu großen Teilen innerhalb der ovalen Rennbahn – spinnt der?«
Ein dunkler Geländewagen scherte so knapp vor ihr ein, dass er sie fast gerammt hätte.
»So ein Idiot!«, schimpfte sie und hieb wütend auf das Lenkrad, da erschütterte ein Stoß von der linken Seite den Wagen und schleuderte ihn auf den Pannenstreifen. Niklic hörte sich schreien, während alles gleichzeitig geschah.
Links neben sich erkannte sie nur den Schatten eines weiteren großen dunklen Autos, der sich abermals näherte. Bevor sie bremsen konnte, rammte er ihren Mini erneut mit voller Wucht. Der kleine Wagen flog wie ein Spielzeug gegen die Leitschienen, wurde gegen den Angreifer zurückgeschleudert. Niklic fühlte sich wie in einem außer Kontrolle geratenen Autodrom im nahen Wurstelprater. Verzweifelt versuchten ihre Hände, das Lenkrad unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Ohren waren erfüllt vom Kreischen und Krachen des malträtierten Metalls der Karosserie, als sie abwechselnd auf beiden Seiten gegen Leitplanken und den anderen Wagen schlug. Das hektische Wirbeln des Lenkrads blieb wirkungslos. Ihr Auto stellte sich quer, drohte zu kippen, prallte noch einmal gegen den Geländewagen und hob ab. Sie spürte, wie sich der Wagen in der Luft langsam um die eigene Achse drehte. Auf einmal war es ganz leise. Das Letzte, was Doreen Niklic sah, waren die Leitplanken, seltsamerweise unter ihr, und Baumkronen, ebenda.
Gegenwelt
Das Friedahaus war eines der Zinshäuser vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in das während des Zweiten Weltkrieges eine Bombe gefallen sein musste, wie so viele in dieser Gegend nahe der U-Bahn-Station Reumannplatz, die reich an Fabriken gewesen war. Im neunzehnten Jahrhundert vor allem von Böhmen besiedelt, die in den nahe gelegenen Ziegelwerken des Wienerbergs Arbeit fanden, war der zehnte Bezirk lange ein klassisches Arbeiterviertel mit zahlreichen Produktionsstätten geblieben. Auch seine Wurzeln als Zuwandererquartier hatte er behalten. Früher waren es die Böhmen gewesen, in den siebziger Jahren die Jugoslawen, heute Bosnier, Serben, Kroaten, Türken und andere.
Die einst sicherlich schmuck verzierte Fassade war glatt und ökonomisch saniert worden. Die Menschen brauchten nach dem Krieg schnell Wohnraum. Den Altbau erkannte man nur an der Höhe der Etagen und am großen Eingangstor. Statt der schweren Holzflügeltür hielt heute eine Metall-Rippglas-Kombination aus den sechziger Jahren ungebetene Besucher draußen und die Wärme drinnen. Wobei es hier keine ungebetenen Besucher gab, im Gegenteil, hier kamen jene Gäste unter, die nirgends anders mehr ein Dach über dem Kopf und etwas zum Essen erhielten.
Der Eingangsbereich erinnerte Freund an eine Jugendherberge. Fliesenboden, karge, funktionale Möbel. Hinter einem Empfangstisch saß ein junger Mann mit Rastalocken und schlechter Haut. Freund sagte, zu wem er wolle. Der junge Mann erklärte ihm den Weg und widmete sich wieder dem Computer vor sich. Freund musste durch den großen Gemeinschaftsraum, in dem ein paar der Gäste saßen. Den meisten Gesichtern sah man das Leben im Freien und den meist jahrelangen Alkoholmissbrauch an. Sie trugen Kleidung, die ihnen nur ungefähr passte, aber sauber war. Ein paar lasen Zeitung, andere saßen vor einem Fernseher, einige unterhielten sich laut mit rauen Stimmen.
Der nächste Raum war der Speisesaal. Alle Tische waren besetzt. Hinter dem Tresen an der rückwärtigen Wand verteilten fünf Personen Essen an jene, die in der Schlange vor ihnen warteten. Dahinter sah Freund durch eine große Durchreiche in der Küche weitere Leute arbeiten.
Unter den Essensverteilern erkannte Freund sofort Annemarie Dorin. Links und rechts von ihr schaufelten zwei Männer und zwei Frauen, eine davon unübersehbar schwanger, Speisen auf die Teller, die ihnen die Hungrigen hinstellten, und teilten Pudding aus.
Als er näher kam, entdeckte ihn Annemarie Dorin. Sie ließ sich keine Überraschung anmerken und wandte sich wieder ihrer Arbeit mit dem Schöpflöffel zu.
Freund stellte sich an und wartete, bis er vor ihr stand.
Sie begrüßte ihn mit einem ernsten Nicken.
»Guten Tag. Ich hoffe, Sie kommen nicht, weil einer unserer Schützlinge
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