Wikinger meiner Träume
formidable Selbstkontrolle aufbieten, und ihr Erfolg stand keineswegs fest. Wäre der Mann aus Wolscroft noch am Leben gewesen - Dragon wusste nicht, ob er sich lange genug beherrscht hätte, um ihn zu verhören, statt ihn sofort zu töten. Jetzt spielte diese Überlegung keine Rolle mehr, denn der Mercier hatte seine Geheimnisse in eine andere Welt mitgenommen. Immerhin stand nun fest, warum er nach Landsende gekommen war.
»Bringt ihn in die Festung«, befahl Dragon den Bauern und ritt den Hang hinauf.
Im Hof, dicht vor dem Marterpfahl, zügelte er den Hengst so abrupt, dass Erdklumpen unter den Hufen hervor flogen. Dragon sprang aus dem Sattel und kniete neben Rycca nieder. Bevor er sie von den demütigenden Fesseln befreit hatte, würde ihm seine Stimme nicht gehorchen. Mit bebenden Händen löste er die Stricke.
»Was ist geschehen?«, fragte sie, während er sie auf die Beine zog. Mühsam widerstand er der drängenden Versuchung, sie zu umarmen, denn er wusste nicht, ob sie die Liebkosung dulden würde. Dass sie letzte Nacht seine Absicht erkannt hatte, milderte seine Gewissensqualen nicht. Er hatte sie als Lockvogel benutzt und - schlimmer noch - zu Unrecht verdächtigt.
»Vorhin wurde ein Toter gefunden.« Sofort bereute er seine Worte. Bei allen Göttern, besaß er denn nicht die Gabe eines Skalden? Natürlich hätte er seiner Frau, die so viel durchgemacht hatte, die Neuigkeit möglichst schonend beibringen müssen. Aber sie wirkte kein bisschen entsetzt, nur neugierig. »Tatsächlich? Wer ist es?«
»Ich nehme an, der Mann aus Wolscroft. Zumindest trifft deine Beschreibung auf ihn zu.«
Darüber dachte sie eine Zeit lang nach und wischte den Staub von ihrem Rock. »Und ich glaubte schon, ich hätte mir nur eingebildet, ihn wieder zu erkennen.«
»Offensichtlich nicht. Genauso wenig sind die Schlangen deiner Fantasie entsprungen - sie wurden auf sein Handgelenk tätowiert.«
»Das war's also... Er hielt mir Mund und Nase zu, und ich konnte nicht atmen. Kurz bevor mir die Sinne schwanden, fiel mein Blick auf seinen anderen Arm, der meine Taille umschlang. Dabei muss ich die Tätowierung gesehen haben.« Sie sprach in beiläufigem Ton - was Dragon nicht gelang.
»Wäre er bloß noch am Leben!«
»Gewiss, dann könntest du ihn ins Verhör nehmen und herausfinden, was ihn zu seinen Missetaten trieb.«
»Eigentlich meinte ich eher die Genugtuung, die es mir verschafft hätte, ihn zu töten.«
Rycca warf ihm einen kurzen Blick zu. »Darauf musst du wohl oder übel verzichten. Woran ist er gestorben?«
»Vermutlich an einem Schlag auf den Kopf.«
»Oder er ist in dichtem Nebel gestrauchelt und gestürzt.«
Auch das war möglich. Aber Dragon wollte sich etwas mehr Zeit für solche Überlegungen nehmen. Mittlerweile hatte er genug falsche Schlüsse gezogen. Die Bauern, von seinen Rittern begleitet, brachten den Toten in den Hof. Aus allen Richtungen eilten Schaulustige herbei.
Dragon ergriff die Hand seiner Frau, hielt sie hoch und rief: »Lady Rycca ist unschuldig! Heute wurde der wahre Täter gefunden!«
Erfreut nickten die Leute. Einige Frauen musterten ihn vorwurfsvoll, die meisten Männer voller Mitgefühl, und er unterdrückte ein Stöhnen. Nach Ryccas Ansicht besaß sie schon genug Kleider. Auf Juwelen schien sie keinen Wert zu legen. Zwei prächtige Pferde durfte sie jeder Zeit reiten. Wie sollte er wiedergutmachen, was er ihr zugemutet hatte?
»Du hast getan, was nötig war.«
Verwirrt drehte er sich zu ihr um und misstraute seinen Ohren.
»Oh, missverstehe mich nicht, Dragon - ich fand es keineswegs angenehm, die Nacht hier draußen zu verbringen, wie eine Ziege an einen Pfahl gebunden. Trotzdem hast du einen vernünftigen Plan durchgeführt.«
Ihr Verständnis bewegte ihn zutiefst. »Leider ohne Erfolg. Ich dachte, der Schurke würde über dich herfallen.« »Glücklicherweise war er um diese Zeit schon tot.« Davon hatte sie sich mit einem kurzen Blick auf die Leiche überzeugt. Der Mann musste vor mehreren Stunden gestorben sein, vermutlich schon am Vortag.
»Bist du erfahren genug, um so etwas zu beurteilen?«, fragte Dragon.
»In Wolscroft war der Tod sehr oft zu Gast.«
»Und das erinnert mich an deinen Vater...«
Bestürzt wandte sie sich zu ihm, die Augen übergroß in ihrem bleichen Gesicht, und er erkannte, dass sie genauso erschöpft war wie er, obwohl sie eine Zeit lang geschlafen hatte. »Weißt du, wie gedemütigt ich mich fühle, weil ich die Tochter eines solchen
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