Wikinger meiner Träume
ein Fluch zugleich. Anfangs vermochte ich diese Gabe nicht zu kontrollieren. Das ist der wahre Grund, warum Hawk mich in meinem Haus einsperrte - nicht jener Unsinn, den du vielleicht gehört hast - über die Männer, die sonst um mich gekämpft hätten. Über jeden, der das versuchen sollte, wäre mein Bruder voller Zorn hergefallen. Bis ich lernte, eine Barriere in meinem Inneren zu errichten und mich gegen die Gefühle anderer abzuschirmen, war ich völlig hilflos. Das lernte ich schließlich. Aber dafür bezahlte ich einen hohen Preis. Viel zu lange lebte ich hinter dieser Mauer. Erst nachdem Wolf mich entführt hatte, wurde mir bewusst, dass ich keinen Schutzwall brauche. Jetzt finde ich mich in dieser Welt zurecht und bin die Gleiche geblieben. Aber meine übernatürlichen Kräfte beunruhigen mich nicht mehr.«
Erstaunt versuchte Rycca zu fassen, was sie soeben erfahren hatte. Also beruhte der Ruhm der heilkundigen Lady Cymbra auf dieser besonderen Gabe. Welch eine Herausforderung, stets mit allen Menschen verbunden zu sein, ihre Gefühle nachzuempfinden, ihren Ängsten, Sorgen und Schmerzen ausgeliefert...
»So schrecklich ist es nicht«, betonte Cymbra. »Mittlerweile weiß ich, wie ich gewissen Emotionen entrinnen kann, ohne mich völlig abzuschotten. Gelingt dir das auch?«
»Nein«, gab Rycca leise zu. Jetzt erschien es ihr sinnlos, ihr Inneres noch länger zu verbergen. Und die Versuchung, sich alles von der Seele zu reden, war viel zu groß. »Die Wahrheit ist die Wahrheit. Daran lässt sich nichts ändern, und das gilt auch für die Lüge.«
»Bei mir ist es wie ein schimmerndes Licht, das meinen Körper durchströmt. Geht es dir genauso?«
Langsam nickte Rycca. »Und die Lügen werden von dunklen, beklemmenden Wolken begleitet. Niemals gibt es irgendwelche Zweifel.«
»Weiß irgendjemand von deiner Fähigkeit?«
»Die hielt ich stets geheim. Aber ich glaube, mein Zwillingsbruder Thurlow hat irgendetwas geahnt. Wären mein Vater und meine älteren Brüder darauf gekommen, hätten sie mich für eine Hexe gehalten und ohne Zögern getötet.«
Voller Mitgefühl griff Cymbra nach Ryccas Hand. »Tut mir Leid. Jetzt bist du von deiner Familie befreit. Meinst du nicht, du solltest Dragon einweihen?«
»Dragon, der sich gegen diese Ehe sträubte - der nun an eine Frau gebunden ist, vor der er nichts verbergen kann? Ob er die Wahrheit sagt oder lügt, werde ich immer erkennen. Glaubst du, eine solche Gemahlin gefällt ihm?«
Eine Zeit lang dachte Cymbra schweigend nach. »Das weiß ich nicht. Vielleicht, wenn du ihm die Füße warm reibst...«
Entsetzt schnappte Rycca nach Luft. Dann sah sie die unverhohlene Bosheit in Cymbras Augen und brach in schallendes Gelächter aus, in das ihre neue Schwägerin -und Freundin - einstimmte. Sie lachten und lachten und beherrschten sich erst, als Lion empört die Augen aufriss, die beiden Frauen vorwurfsvoll anstarrte und mit seinem schrillen Gebrüll die Seevögel verscheuchte.
»O Gott...«, stöhnte Rycca, als sie wieder zu Atem gekommen war.
Seufzend erhob sich Cymbra, legte den Kopf ihres kleinen Jungen an ihre Schulter und versuchte, ihn zu besänftigen. »So gellend brüllt er schon seit seiner Geburt. Bei seiner Taufe wären die Deckenbalken in der Kapelle von Hawkforte beinahe geborsten.«
»Sehr eindrucksvoll.« Rycca stand ebenfalls auf. »Wahrscheinlich wurde er deshalb nach dem König aller Tiere getauft, dem Löwen.«
»Eigentlich heißt er Kerr, zu Ehren von Wolfs und Dragons Vater. Aber wir nennen ihn Lion. Und dabei wird es wohl bleiben.«
Ungeduldig zappelte er im Arm seiner Mutter, bis sie ihn auf die Beine stellte. Dann stapfte er entschlossen den Hang hinauf, von den beiden belustigten Frauen gefolgt.
13
Eine Woche lang blieben Wolf, Cymbra und Lion in Landsende. Für Rycca verging die Zeit viel zu schnell. Mit ihrer neuen Freundin suchte sie auf den Wiesen nach den Kräutern, die Cymbra stets brauchte. Dabei redeten sie über Gott und die Welt. Immer wieder brachen sie in übermütiges Gelächter aus, was ihre Ehemänner bewog, die Augen zu verdrehen.
Rycca entspannte sich sogar in der Gegenwart des formidablen Wolfs, der das Eheglück seines Bruders bemerkt und seine strenge Haltung aufgegeben hatte.
Am letzten gemeinsamen Abend wurden die angeregten Gespräche nur unterbrochen, wenn Dragon sich dazu überreden ließ, Geschichten zu erzählen. Offenbar war sein Vorrat unerschöpflich, und sein Vortrag beeindruckte seine Gemahlin so
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