Wikingerfeuer
… Solange er nicht ausgelöst war, würde Baldvin nicht erneut aufbrechen.
Und was tat sie? Sie verzögerte die Angelegenheit noch, indem sie den Engländer versorgte.
Du bist in deinem Herzen eben doch, was du bist , hatte der Vater gesagt, als er nachgegeben hatte. Eine Frau .
Sie hatte ihm widersprechen wollen, aber da sie nicht einmal genau wusste, warum es ihr so wichtig war, die Folter des Engländers zu beenden, hatte sie es nicht getan.
Rouwen lag seitlich auf der Pritsche und bewegte sich leicht. Im schummrigen Licht, das durch den Rauchabzug unterhalb der Hüttendecke drang, erkannte sie, dass seine mächtigen Glieder mit kleinen und auch größeren Narben übersät waren, als habe er unzählige Schlachten geschlagen. Die kräftigen Muskeln zeichneten sich selbst bei kleinen Bewegungen deutlich unter der Haut ab. Rúna trat einen Schritt zurück und umschloss den Griff des Sarazenendolches an ihrem Gürtel, unwillkürlich dankbar für Sverris Umsicht. Doch der Engländer lag im nächsten Moment wieder still. Er atmete tief und gleichmäßig. Über seine Stirn hingen Strähnen des rötlich schimmernden Kastanienhaares. Seine Nase war gerade, die Lippen voll und leicht geschwungen. Getrocknetes Blut klebte im Mundwinkel. Rúna fuhr mit den Augen die Linien seines vollkommenen Gesichts entlang.
Ihre Fingerspitzen kribbelten in dem Wunsch, sie auch zu erspüren. Und warum nicht? Sie ging an seiner Seite in die Knie. Die linke Hand am Dolchgriff, ließ sie die Finger der anderen vor seinem Gesicht schweben. Gütige Freya, solche herrlichen Lippen hab ich bei einem Mann nie zuvor gesehen …
Als sie sie mit dem Daumen sacht berührte, war es ihr, als würde ein wohlig warmer Strom durch ihren Körper fließen. Sie zuckte zurück; beinahe wäre sie auf ihr Gesäß gesackt. War das ein christlicher Zauber?
Das Knarren der Tür ließ sie auf den Fersen herumfahren.
»Arien!«, rief sie mit unterdrückter Stimme. »Was machst du hier?«
Ihr Bruder schlich sich näher und zog die Hüttentür hinter sich zu. »Nur gucken. Willst du ihn töten?«, flüsterte er.
Rúna hatte nicht bemerkt, dass sie den Dolch gezogen hatte. Verlegen schob sie ihn zurück in die Scheide und rückte ihn zurecht. »Natürlich nicht.«
Arien legte eine Hand an den Hals; offenbar plagte ihn wieder ein Hustenreiz, aber er wollte wohl den Engländer nicht wecken. Seine Stimme war krächzend, als er wieder sprach. »Vater sitzt am Tisch, trinkt und ärgert sich, dass er sich von dir hat überreden lassen. Und Yngvarr hat ihm versprochen, dass er den Engländer umbringt, wenn er dummes Zeug macht.«
»Du machst aber auch gerade Dummes, hm? Du darfst nicht in Rouwens Nähe, egal ob er gefesselt ist oder nicht. Nicht dass er dich noch einmal schnappt. Also, warum bist du hier, du Neugiernase?«
»Na, weil ich neugierig bin, sagst du doch selber.«
Sie seufzte. Arien konnte man einfach nicht böse sein, egal was er anstellte. Aus einem Krug goss sie etwas Wasser auf ein Stück Leinen und wusch behutsam das Blut aus Rouwens Gesicht. Leise stöhnte er; seine Lider flackerten, doch er erwachte immer noch nicht.
»Außerdem hat er mir gesagt, dass er mir nichts getan hätte«, fügte Arien hinzu. »Also brauche ich ihn nicht zu fürchten.«
»So, du glaubst ihm also.«
Er nickte ernsthaft. »Er hat von einem Tempel erzählt, wo er herkäme.« Er runzelte konzentriert die Stirn. »Orden der Armen Ritter Christi vom Tempel Salomons. Ja, so hieß das. Aus Jerusalem. Und er ist ein Ritter dieses Tempels, ein Tempelritter. Weißt du, was er meinte?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Salomon, was für ein seltsamer Name.« Rúna schüttelte den Kopf. »Aber hast du jetzt nicht Kampfstunde mit Thorleif? Oder war’s Schiffsbaukunde bei Gorun?«
Er zog eine Grimasse, als würde jemand seinen Nacken mit Schnee einreiben. »Ich geh ja schon.« An der Tür sah er sich noch einmal um. Sein Blick schien zu sagen, sie solle auf sich aufpassen.
Rúna wedelte mit dem Lappen, und endlich lief er hinaus. Sie machte einige Schritte hin und her und überlegte, ob es nicht an der Zeit war, sich ebenfalls um ihre Angelegenheiten zu kümmern, statt den Engländer zu umsorgen. Eine Schwertkampfübung stand heute nicht an, aber sie könnte … Da fielen ihr Stígrs Bücher ein. Vielleicht könnte sie ja darin eine Antwort auf die Frage finden, was ein Tempelritter war. Sie hob den Deckel der Truhe, in der der Zauberer einige Beutestücke aufbewahrte,
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