Wikingerfeuer
erneut vor. Rouwen wusste, dass er es nicht mehr lange durchhalten konnte, den mächtigen Wikinger in Schach zu halten. Er spürte noch die Schwäche in den Knochen. Wenn den Mann niemand aufhielt, dann …
»Hat ihm jemand verboten, nach draußen zu blicken?«, schimpfte Rúna, während sie Arien im Nacken packte, der leichtsinnigerweise an ihr vorbeiwollte. »War es Athelna verboten, mit ihm zu reden?«
»Sie sind Geiseln!«, gab Yngvarr schnaufend zurück. »Du bist einfach zu nachsichtig. Ginge es nach mir, würde der Christ in Ketten liegen. Und zwar draußen!«
Rúna fluchte, doch Rouwen hörte nicht mehr hin. Er war zu sehr damit beschäftigt, weiterhin den Hieben auszuweichen. Allmählich wurde ihm flau im Magen, während Yngvarr noch wütender zuschlug. Ein Schlag, dem Rouwen gerade noch ausweichen konnte, ging auf den Reliquienschrein nieder. Das Glashäuschen ging endgültig zu Bruch, und die Knochen des Heiligen barsten.
»Wenn Stígr sieht, was du mit seinen Sachen machst!«, lachte jemand.
»Pah, das alte Vogelgerippe!«
Rouwen bemerkte Baldvin. Der zwergenhafte Häuptling stand hinter Rúna und sah an ihr vorbei zu. Nachdenklich kraulte er sich den Bartzopf. Wie lange stand er schon da? Plötzlich tanzten schwarze Flecken vor Rouwens Augen, und ein scharfer Schmerz stieß wie ein langer Dolch durch seinen Kopf. Die Klingenspitze hatte ihn an der Stirn getroffen.
»Hör endlich auf!«, schrie Rúna.
Er ging in die Knie. Dass nun auch der Häuptling brüllte, Yngvarr solle die Waffe niederlegen, drang wie durch einen Nebel an seine Ohren. Taumelnd und nur mit größter Willensanstrengung kam er wieder auf die Füße. Seine Knie stießen gegen die Pritsche. Er konnte sich nur noch drehen und darauf niedersacken.
Laute Stimmen füllten den Raum, und dann sah er Rúna, wie sie über ihm stand und etwas hob. Er zuckte zurück, wollte einen Arm heben, um einen Angriff abzuwehren. Mühelos drückte sie seinen Arm zur Seite und hob ein Stück Tuch. Sanft berührte sie damit seine Stirn. Ein feuriger Schmerz flammte auf. Als sie die Hand wieder wegnahm, war das Tuch blutig.
Der Blick, den sie Yngvarr zuwarf, sprühte vor Zorn. Und als sie wieder herschaute, war er weich. Yngvarr rauschte hinaus.
Allein wegen dieses Blickes hat es sich gelohnt, mich von ihm verprügeln zu lassen , dachte Rouwen. Heiser lachte er auf.
Fragend hob Rúna die Brauen. Dann lächelte sie.
Es war das letzte, was er sah, bevor er ohnmächtig wurde.
Rúna zog das Ende des gefiederten Pfeils an ihr Ohr. Die Spitze folgte einer fliegenden Raubmöwe. Weit oben im hellgrauen Himmel glitt ein Seeadler dahin. Weder um die Gefahr aus der Höhe noch um Rúnas Pfeil schien sich die Möwe zu kümmern. Diese frechen Vögel pflegten sich sogar auf Menschen zu stürzen. Rúna beschloss, sie zu verschonen; stattdessen zielte sie auf einen Zweig, der im böigen Wind auf und ab tanzte. Sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen und ließ die Sehne fahren. Der Pfeil streifte ein Blatt, zerteilte jedoch nicht den Zweig.
»Ein guter Schuss«, lobte Baldvin. »Wenn man die Bedingungen berücksichtigt.«
Sie lächelte ihren Vater an. Yngvarr hätte sie verhöhnt und den Zweig anschaulich mit einem Wurf seiner Kriegsaxt zerteilt.
»Schau, dort drüben, der Birkhahn«, Baldvin deutete in eine von dichtem grünem Gras überwachsene Senke, in der ein Bach plätscherte. Ein schwarzer Hahn mit ein paar weißen Federn und roten Flecken über den Augen umflatterte ein bräunliches Huhn. »Der taugt fürs Abendessen. Hm?«
Sie riss den Bogen hoch, spannte ihn und schoss. Leblos fiel das Tier zu Boden. Den Bogen an der Seite, rannte sie dorthin. Ein Sklave hätte das tun können, doch Rúna zog es vor, ihren Körper zu stählen. Deshalb trug sie heute auch das schwere Kettenhemd. Außerdem liebte sie es, mit den nackten Füßen über das saftige Gras zu laufen. Dabei tief die Luft einzuatmen, die nach dem Salz des Meeres und den würzigen Gerüchen der Tiere und Pflanzen duftete. Überall flatterten und schnatterten Vögel: Seemöwen, Kiebitze, Schnepfen und Schwalben; und hoch in den Lüften kreisten Bussarde und Turmfalken. Eine Schar Enten erhob sich schimpfend aus dem Bach, als Rúna dort ankam und den Kadaver im Laufen aufhob.
Zurück bei Baldvin band sie ihn am Sattel ihres Ponys fest.
»Also, noch einmal wegen des Engländers«, nahm er den Faden ihres Gesprächs wieder auf. »Du hast für ziemliches Durcheinander gesorgt, indem du ihm die
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