Wikingerfeuer
zumute. Sie hatte Athelna bedauert, doch stets nur eine Geisel in ihr gesehen, die noch dazu recht gut behandelt wurde. Nun, da sie wusste, was es hieß, jemanden zu lieben und nicht mit ihm zusammen sein zu können, wurde ihr erst bewusst, wie schwer die Gefangenschaft für Athelna sein musste.
»Fesselt sie«, befahl Wulfher und trat an die Zinnen zurück.
Die Wachen zwangen ihre Hände auf den Rücken und schlangen einen Strick um sie. Rúna wand sich, doch dabei sprang ihr zerrissenes Kleid vorne auf und entblößte eine Brust. Freya sei Dank, dass es so dunkel war.
»Herauf mit ihr«, Wulfher klopfte auf eine der Scharten zwischen den Zinnen, und die Wachen schubsten sie dorthin und hoben sie hinauf. Sie ärgerte sich, eben noch freundlich – nun ja, halbwegs freundlich – mit einem Mann geredet zu haben, der sie so grob behandeln ließ und offenbar riskierte, dass sie in die Tiefe fiel. Wild schlug ihr Herz angesichts der Höhe. In den Klippen Yoturs war sie oft herumgeklettert, um Eier zu sammeln, und ein Sturz wäre nicht weniger tödlich gewesen. Doch hilflos darauf zu hoffen, dass die Männer das Seil gut festhielten, ließ sie schwindeln.
»Rúna!«, erklang ein erschreckter Schrei aus der Tiefe.
Sie schaute in den inneren, von Fackeln erhellten Hof hinab. Da. Ihr Vater! Und die anderen! Sie alle waren gekommen, um … Nein, vergeblich hielt sie auch nach Rouwen Ausschau. So gerne hätte sie ihn gesehen, hätte sich noch einmal sein Gesicht eingeprägt, um dieses Bild mit nach Walhall zu nehmen. Weshalb war er nicht mitgekommen? Hatte Yngvarr ihn getötet? Niemals! , wehrte sie diesen hässlichen Gedanken sofort ab. Dazu wäre er niemals in der Lage!
Es tat weh, ihren Vater so verzweifelt zu sehen. Aus dieser Höhe wirkte er noch um einiges kleiner als die Schwertmänner an seiner Seite. Der stolze Wikingerhäuptling, der um der Fehde willen die Tradition der Wikingfahrten aufrecht erhielt … und der jetzt um ihr Leben flehen musste.
Als sie den Blick weiter durch den Hof gleiten ließ, stockte ihr der Atem. Auf jeden Yoturer kamen zwei Gewappnete, die die Hände an den Schwertern hatten oder lange englische Kampfbogen halb gespannt hielten.
»Baldvin Baldvinsson!«, rief Wulfher hinunter. »Ihr habt Athelna, ich habe Rúna. Ich denke, die Sache ist klar: Wir werden sie austauschen. Seid Ihr einverstanden?«
Baldvin ballte die Fäuste. »Ja. Sofern Ihr auch den Mönch Oxnac ausliefert!«
»Und wen gebt Ihr mir für den Mönch? Nein, Baldvin, eine für eine! Das ist mein erstes und letztes Wort. Ich lasse nicht mit mir schachern.«
Selbst von hier oben konnte sie erkennen, dass Yngvarrs Gesicht vor unterdrücktem Zorn und Kampfeslust glühte. Baldvin hingegen wirkte um Jahre gealtert. Es schien, als sei jegliche Lust am Erobern und Rauben, die ein Wikinger doch im Blut hatte, von ihm gewichen.
Rúna wurde flau im Magen, als sie daran dachte, hier nun Wochen ausharren zu müssen, bis er und die anderen Athelna geholt hatten.
Doch Yngvarr schrie: »Wir werden darüber beraten und morgen zurückkommen!«
Hinter sich hörte Rúna einen der Wächter lachen. »Der Kerl glaubt wohl, in der Nacht eindringen zu können. Na, da wird er sich die Zähne ausbeißen.«
Wulfher nickte. »Von mir aus sollen sie diese Nacht noch haben – bis morgen werden sie sich eines Besseren besonnen haben.« Dann hob er seine Stimme wieder. »Morgen früh erwarte ich euch mit der richtigen Antwort vor dem Tor!« Er wandte sich ab; die Verhandlungen waren beendet.
Als Rúna einen Zug am Seil spürte, neigte sie sich vor. »Vater, es tut mir leid«, rief sie. »Als zukünftiger Häuptling hätte ich klüger sein müssen.«
»Du hast getan, wozu dich dein Herz getrieben hat«, erwiderte Baldvin. »Und das macht eine starke, mutige Kriegerin aus!«
Für diese Worte würde sie ihm ewig dankbar sein. Sie hoffte nur, es wären nicht die letzten Worte, die sie je von ihm hörte.
18.
D ie Männer kehrten zurück. Darauf hatte Rouwen gewartet, um der Gefahr zu entgehen, ihnen auf dem Weg zur Burg versehentlich in die Arme zu laufen. Rückwärts schob er sich unter dem Gebüsch hervor, in dem er sich versteckt hatte, und hastete durch das Unterholz zu Angus’ Pferd. Er hatte es, ebenfalls gut verborgen, hinter einer Birkengruppe festgebunden. Seine Füße stoben durch das raschelnde Laub, doch das Geräusch war zu leise, als dass man ihn im Lager hätte hören können. Zumal ihn die Dunkelheit schützte und die Männer
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