Wikingerfeuer
ausreichend mit sich selbst beschäftigt waren.
Er konnte sich ausmalen, was sie erreicht hatten: nichts. Wer immer Rúna auf der Burg gefangen hielt, konnte alles fordern und musste nichts geben.
Er vernahm Yngvarrs Stimme. »Wo ist der Engländer?«
Rouwen konnte die einzelnen Worte gerade noch verstehen. Trotzdem hörte man ganz deutlich die Wut darin. Er blieb stehen, um zu lauschen.
»Irgendwo im Wald, um den Schotten unter die Erde zu bringen«, antwortete Sverri, der zurückgeblieben war, um auf Arien aufzupassen.
»Der ist doch abgehauen!«
»Das glaube ich nicht. Und wenn schon; er ist nutzlos, hast du das nicht selbst gesagt?«
Der Streit ging weiter, doch Rouwen setzte sich wieder in Bewegung. Bald konnte er nichts mehr hören. Es tat ihm leid, dass er Sverri hatte belügen müssen – er hatte tatsächlich mit bloßen Händen ein flaches Grab für Angus ausgehoben, darüber ein Kreuz aus Ästen aufgestellt und ein Gebet gesprochen. Doch er hatte nicht vorgehabt, zurückzukehren.
Er führte das Pferd aus dem Wäldchen und über Wiesen und Felder, in denen die Gräser hüfthoch blühten. Der Boden war so feucht, dass jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch verursachte, doch ein halber Mond erleichterte ihm die Sicht und zeigte ihm, dass er weit und breit der einzige Mensch war. Sowie er auf den Hohlweg gelangt war, zog er das Kettenhemd vom Pferderücken und legte es über Angus’ Tunika an, die er bereits trug. Darüber kam der Gürtel mit dem Langschwert und einem Messer. Es fühlte sich gut an, wieder anständig bewaffnet zu sein. Rouwen warf sich den weißen Mantel des toten Schotten um und schloss die Scheibenfibel mit dem Kreuz vor der Brust. Auch die aus feinem Rindsleder gefertigten und mit Eisenplatten versehenen Handschuhe zog er an. Die Sporne des Edelknechts hatte er bereits an den eigenen Stiefeln befestigt. Als er fertig gekleidet war, schwang er sich auf den Rappen. Das Tier tänzelte unruhig, doch dann gehorchte es seinem Zügelzug und Schenkeldruck und hielt auf die Burg zu.
Bald machte der Weg eine Biegung; über der Böschung konnte man bereits den Wohnturm erkennen, und dann kamen die Burgmauer und die Gebäude davor in Sichtweite. Flackernde Talglichter in den Fenstern des Turms verhießen Wärme und Gemütlichkeit. Genau das Richtige für einen Reisenden. Er würde …
Schnelle Schritte erklangen hinter ihm. Er drehte sich im Sattel.
Bei allen Heiligen, das konnte doch nicht wahr sein! Rouwen zügelte das Pferd. »Hölle und Teufel, Arien! Was machst du hier?«
Der Junge kam an seine Seite gehastet und blieb schwer schnaufend stehen. Er schwankte, presste eine Hand auf die Brust und kämpfte einen Hustenanfall nieder. Rouwen war drauf und dran, abzuspringen und ihn an den Wegesrand zu bringen, wo er sich ins Gras hätte legen können. Doch dann hatte sich Arien gefasst und grinste.
»Ist etwas passiert?«, fragte Rouwen.
Arien schüttelte die blonden Locken. Rouwen schnalzte mit der Zunge und ließ das Pferd langsam vorwärts schreiten. Die Wachen auf dem Wehrgang über dem Tor hatten ihn zweifellos längst bemerkt, und er wollte nicht ihr Misstrauen wecken, indem er hier herumlungerte. »Arien«, sagte er zu dem Jungen, der neben ihm hertrabte, »du wirst auf der Stelle kehrtmachen.«
»Das hat Rúna auch verlangt, als sie herkam, und wenn sie es nicht schafft, mich loszuwerden, dann kriegst du das auch nicht hin. Auf dich muss ich eh nicht hören, du bist doch immer noch unser Gefangener.«
»Du redest Unfug, und das weißt du, oder?«
Der Junge presste die Lippen zusammen und setzte eine finstere Miene auf. Natürlich wusste er es.
»Wenn die anderen bemerken, dass du weg bist, werden sie dich suchen.«
Der Junge schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, die denken alle, ich schlafe. Ich bin hinten aus meinem Zelt herausgekrochen. Ich hab aufgepasst, dass mich niemand sieht. Und Sverri und Hallvardr schauen nie ins Zelt, nachdem ich schlafen gegangen bin. Außerdem reden sich alle die Köpfe heiß; die denken jetzt gar nicht an mich. Yngvarr wird übrigens sehr zornig sein, wenn er merkt, dass das Pferd des Schotten weg ist. Vermutlich hat er’s schon gemerkt. Er wollte es bestimmt Odin opfern.«
Rouwen verzog das Gesicht. »Lenk nicht von dir ab. Geh endlich!«
»Nein, Herr Rouwen, das kann ich nicht. Ich muss Rúna da herausholen.«
Hatte Arien ihn jemals zuvor ›Herr‹ genannt? Rouwen seufzte. Ariens Entschlossenheit, seiner Schwester beizustehen,
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