Wild (German Edition)
Partner zu.
Ein fremdes Lächeln blühte auf meinen Lippen auf. Hatte der gute Dr. Händel etwa meine Unterlagen manipuliert, bevor er gegangen war? Mit dem Ergebnis, dass ich offiziell als »normal« galt?
Ich sollte dankbar sein. Aber stattdessen war ich bloß wütend.
In jener Woche, in der unsere Glücksgaben nicht gewirkt hatten, waren wir zu viert gewesen. Hatten einander verstanden, miteinander gelitten und gemeinsam das Neue in unserem Leben begrüßt. Lucky und Star und Orion und ich.
Jetzt war ich allein.
Ganz allein.
Eine Insel aus Gefühl in einem Meer aus heiterer Gleichgültigkeit. Lucky war da und doch nicht da. Er lächelte. Er zwinkerte mir zu. Er versuchte sogar, mit mir zu flirten, wenn Moon nicht hinsah. Aber es war nicht dasselbe wie auf unserer Flucht.
Ich konnte ihm nicht von meiner Zeit in der Wildnis erzählen. Von meinen Träumen. Von mir. Denn Moon hütete ihn wie eine Bache ihre Frischlinge. Und er hätte es ja doch nicht verstanden.
Der Winter kam näher, während ich verzweifelt versuchte, einen Plan zu fassen. Was sollte ich tun? Mich daran gewöhnen, an dieses fremde Leben inmitten von lauter Glücklichen?
Dann der Tag, vor dem ich mich insgeheim schon lange fürchtete: als auf meinem Tom die Nachricht aufblinkte, dass ich einen Freund hatte. Einen Jungen aus der City. Ich klickte die Nachricht weg, bevor sein Name auftauchte. Ich fürchtete mich vor diesem Namen. Gab es nicht genug andere Namen, an die ich Tag und Nacht dachte, die ich mit mir herumtrug wie einen Korb voller erdiger Wurzeln?
»Ich hab eine Überraschung«, sagte ich zu Moon.
»Einen Gutschein für Kids-for-freedom?« Moons Stimme schraubte sich hoch und noch höher. »Wie geil ist das denn!«
»Wir könnten heute Nachmittag hinfahren und einkaufen, was das Herz begehrt«, schlug ich vor. »Lucky?« Ich hielt ihn fest, bevor er sich verkrümeln konnte. Shoppingtouren schreckten Jungs ab, das war mir klar, aber bei dieser Aktion brauchte ich ihn unbedingt. »Du kommst doch mit?«
Lucky begriff. Sein Gesicht leuchtete auf. »Warum nicht?«, meinte er und legte den Arm um Moons Schultern. »Ich will doch nichts verpassen, wenn ihr Spaß habt.«
Ob er ahnte, was ich vorhatte? Am liebsten hätte ich ihn gefragt. Sind diese Bilder auch in dir? Siehst du sie, wie ich sie sehe? Augen sind nicht genug. Fühlst du den Wind? Das Streicheln der Morgenröte, der ersten Sonnenstrahlen auf der Haut? Riechst du die Blume und den warmen Teer oben auf dem Dach, spürst du das Knirschen unter den Schuhsohlen und in deiner Brust dein Herz und dein Atmen und ein Gefühl, das keinem anderen gleichkommt?
Dort ist das Glück.
Ich fragte ihn nicht. Aber er kam mit, und während er neben Moon auf dem Beifahrersitz saß und sich mit Irina darüber stritt, ob wir zu schnell waren, hatte ich die allerbeste Aussicht auf seinen Nacken und seine Schultern. Nicht zu vergleichen mit Orions breitem Kreuz. Auch nicht mit Gabriels sehniger Geschmeidigkeit. Lucky war eben einfach nur Lucky.
In Orions Nähe fühlte ich mich geborgen. Gabriel machte mich nervös. Aber Lucky … Lucky war derjenige, bei dem ich sein wollte, denn Lucky war der Einzige, der mich liebte.
»Es gibt keinen Parkplatz«, beschwerte der Wagen sich mit Irinas vertrautem Näseln. »Das ist keine Stelle zum Halten.«
»Macht nichts«, sagte Moon. »Wir schlagen heute über die Stränge, und ich will jede kostbare Minute im Laden verbringen und nicht auf der Straße.«
Vor uns ragte das lavendelfarbene Gebäude in den Himmel. Laden, Verwaltung, Hotel. Die Zentrale von Kids-for-freedom. Keiner von uns sprach darüber, dass wir schon einmal hier gewesen waren, als wir die breiten Stufen zum Eingang emporstiegen. Moon ließ Luckys Hand los, sobald uns der strenge Geruch der mit allen chemischen Raffinessen ausgestatteten Kleidung umfing, durchmischt mit verkaufsfördernden Aromen.
Sanfte Musik dudelte aus den Lautsprechern.
Wir kauften ein. Moon hangelte sich von einem Kleiderkarussell zum nächsten und stieß dabei Jubelrufe aus. Zielstrebig näherte sich eine junge Verkäuferin und erlitt bei Moons Anblick den gleichen Anfall von Verwirrung und Erschrecken wie die Empfangsdame damals im Sommer. Kein Wunder, dass wir damals alles umsonst bekommen hatten – mit einem Mädchen, das die Damen für die Tochter der Chefin hielten.
»Was für eine Ehre«, flüsterte die Verkäuferin verschwörerisch.
»Können Sie mir was empfehlen?«, fragte Moon.
»Ich … Ihnen? Oh
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