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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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ganze Weile nicht damit aufhören, mir etwas vorzumachen. Ich wollte ihn nicht küssen, ich wollte weinen.
    »Wirst du wirklich mitkommen?«, fragte ich.
    »Wohin auch immer du willst«, sagte er, aber ich wusste, dass er das nur so dahersagte. Er war wie ein Kind; er war nicht in der Lage, sich die Schrecknisse einer Flucht vorzustellen.
    Das hier war Moons Lucky, nicht meiner.
    »Sie ist echt lästig«, beschwerte er sich, »dann komm ich wenigstens mal ein bisschen von ihr weg.«
    »Sie haben mir einen Freund zugeteilt«, sagte ich.
    »Oh«, machte er nur.
    Liebe ist wild. Liebe ist stark und nicht zu bändigen, wie der Wind und wie ein See unter den Bäumen. Liebe ist wie ein heimliches Feuer, das die Jäger anlocken könnte. Liebe ist nicht Glück.
    Ich sah ihn an und wusste, dass Liebe nicht Glück war, und doch war ich glücklich, bei ihm zu sein, glücklicher als die lange Zeit davor, die mir vorkam wie viele Jahre.
    Diese Zeit in der Wildnis, bei …
    Nein, ich verbot mir weiterzudenken.
    Ich hatte Lucky, meinem Lucky, dem echten Jungen, der mir hier auf dem Dach gezeigt hatte, wer er wirklich war, etwas versprochen. Und das würde ich halten, koste es, was es wolle.
    »Wir sollten jetzt runtergehen, zurück zu Moon«, sagte ich, denn das, was ich mir wünschte, würde ich hier nicht finden. Die Regs hatten es zerstört, aber nicht unheilbar. Niemand kannte den echten Lucky, nicht einmal er selbst. Aber ich schon. Ich hatte ihn kennengelernt, ein paar Tage lang. Stunden, jede davon kostbarer als ein Jahr im Dämmerschlaf. Er verdiente es, wieder so sein zu dürfen, ganz er selbst.
    Ich musste ihn aus dem Glücksstrom reißen.
    Wenn es mir gelang, Lucky mit in die Wildnis zu nehmen, hatte ich ihn wieder – den jungen Mann, der lieber sterben wollte, als so zu leben, wie Neustadt es ihm aufzwang.
    In diesem Moment wusste ich, dass ich mich schon längst entschieden hatte, vielleicht schon an dem Tag, als Happiness mich in die Schule brachte und die erste Glücksgabe nicht wirkte. Ich konnte nicht bleiben.
    Ich musste zurück.
    »Peas Friedrichs?« Die Verkäuferin hielt mich auf, als wir aus dem Fahrstuhl stiegen. »Frau Mozart ist Ihre Ankunft hier nicht entgangen. Sie bittet Sie zu sich. Jetzt gleich.«
    Ich nickte.
    Damit hatte ich rechnen müssen. Die Familie Mozart entschied über mein Wohlergehen, und wenn ich sie noch länger warten ließ, würden sie mich am Ende hinter Eisentüren verschwinden lassen.
    Das war der Zeitpunkt, um mir einen schicken Mantel zu verdienen.
    »Sie wollten zu den drei Hügeln«, sagte ich und lächelte treuherzig.

34.
    Venus, unsere Biologielehrerin, liebte Mikroskope. Sie war von Bakterien und Viren geradezu besessen. Falls sie irgendwelche heimlichen wilden Leidenschaften haben sollte, dann waren es Krankheiten. Ich konnte mich darauf verlassen, dass wir heute wieder etwas Ekliges untersuchen würden. Um in die finsteren Gefahren, die von unseren Tellern und Kühlschränken ausgingen, eingeweiht zu werden, begutachteten wir heute Lebensmittel, die zu lange aufbewahrt worden waren.
    Ich meldete mich freiwillig, um mit in die Aufbewahrungskammer zu gehen und die Proben zu holen.
    »Ach, Peas, wie nett von dir.« Sie strahlte mich an. Wenn diese Frau nicht im Glücksstrom schwamm, wusste ich auch nicht. »Aber du lässt so häufig Sachen fallen, und das wäre mir gar nicht recht.«
    »Ich könnte aber doch …«
    Sie wählte Moon und Jupiter aus, um ihr zu helfen.
    Ich kam nicht einmal in die Nähe der Kammer.
    Es würde mir nichts anderes übrig bleiben, als heute Nacht in die Schule einzubrechen.
    Meinen Eltern sagte ich, es könnte spät werden, ich wäre noch mit Moon und Lucky unterwegs. Sie sollten nicht auf mich warten.
    »Meine große Tochter«, sagte meine Mutter und wandte sich wieder ihren Bildern zu.
    Ich blickte ihr über die Schulter. Sah eine Weile zu, wie sie malte. Es war ein Abschied, und dass sie nichts davon wusste, machte es schwer.
    Da war eine Wildheit in den Farben, in der Art, wie sie den Pinsel über die Leinwand führte, ihn tanzen ließ, schwungvoll, dann wieder zärtlich, dann fast wütend. Da war so viel Liebe, so viel Gefühl. Selbst der Glücksstrom konnte unser Herz nicht völlig abtöten.
    »Auf Wiedersehen, Mam«, sagte ich leise.
    Von meinem Vater verabschiedete ich mich nicht, denn ich hatte Angst davor, dass er das Zittern in meiner Stimme richtig interpretierte.
    Sanft schloss ich die Tür.
    So spät abends war die Schule nicht weniger

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