Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
aus.
    »Du musst mitkommen«, sagte ich, ich versuchte, so sanft wie möglich zu ihr zu sprechen. »Bitte, Star. Komm bitte mit. Wir bringen dich nach Hause. Gleich sind die Wächter hier.«
    »Die Zeit läuft uns davon«, sagte Orion und betrachtete den kleinen Jungen, den nur noch die Maschinen in diesem halb lebendigen, halb toten Zustand erhielten. »Nimm Abschied.«
    »Ja«, sagte sie. »Das werde ich tun. Kannst du bitte das Fenster öffnen?«
    Orion sah es kommen. Im Nachhinein war ich mir sicher, dass er es gewusst hatte. Denn obwohl wir es so eilig hatten, obwohl schon die lauten Schritte der Wachleute auf dem Flur hallten, riss er an den Fensterriegeln. Sie ließen sich nicht öffnen, und ohne zu zögern wuchtete er das metallene Nachttischchen vom Nachbarbett in die Höhe und zerschmetterte die Glasscheibe.
    Die warme Luft des frühen Sommermorgens wehte herein. Blumig. Verheißungsvoll.
    »Beeil dich«, sagte er ernst.
    Star nahm Phil die Augenbinde ab. Sie legte die Hände über die leeren Augenhöhlen, küsste ihn auf die Stirn.
    Trotzdem ahnte ich nicht, was sie vorhatte.
    Hätte ich es geahnt, wäre mir der leiseste Verdacht gekommen – hätte ich nicht versucht, es zu verhindern?
    Sie war schnell. Zog den Stecker, riss die Kanülen und Schläuche aus Phils Haut, bevor ich am Bett war. Die Maschine begann ohrenbetäubend zu piepen.
    »Star!«, rief ich.
    »Was tust du?«, rief Lucky.
    Schon hielt Star den toten Jungen in den Armen. Sie war so klein und zierlich; diese Kraft hatte ich nicht in ihr vermutet. Dann war sie am Fenster, ihren Bruder eng an sich gepresst.
    »Star!«
    Schrie ich? Dachte ich daran, die Lautstärke zu dämpfen? Es spielte keine Rolle mehr. Die Wächter rissen die Tür auf, stürmten ins Krankenzimmer, doch da wuchtete Star Phil bereits über die Fensterbank.
    Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Orion rannte mit ausgebreiteten Armen auf die Wächter zu, einen wilden Schrei auf den Lippen.
    Lucky duckte sich unter dem Angriff des Vordersten. Moon drückte sich an die Wand, lachte auf und hieb mit ihren mörderischen Schuhen drauflos.
    Und Star, auf dem Sims, lächelte nur. Sie lächelte wie ein Stern.
    Und ließ Phil fallen.
    »Frei«, flüsterte sie.
    Dann ging alles im Chaos unter.
    »Was tust du da?«, kreischte eine Genesungshelferin. Wächter. Schwestern. Schreie. Das Zimmer war voll, aber Orion war überall zugleich. »Lauf!«, rief er mir zu.
    Ich stieß eine Helferin zurück, die gerade versuchte, Star zu packen, und dann liefen wir.
    Hinter uns ein Lärm wie aus dem Tollhaus.
    »Zur Treppe!«
    Das Geschrei gellte hinter uns. Stars Gesicht war nass vor Tränen, aber als ich die Nottür aufriss und ein weiterer Alarm losschrillte, hatten ihre Augen etwas Hartes, Kühles, und in diesem Moment kam sie mir viel stärker vor als ich.
    Eine Weile gab es nichts als die Notwendigkeit, sich am Geländer festzukrallen, während die Füße sprangen, ausglitten, rannten, sprangen. Nichts als unseren keuchenden Atem. Schreie von oben. »Bleibt stehen!«
    Wir dachten nicht daran. Schon waren wir im Erdgeschoss, wo zum Glück keine Wächter mehr waren. Moon knallte gegen die Glastüren.
    »Wir sind eingeschlossen!«
    Schritte hinter uns. Die beiden Jungs. Lucky hatte ein blaues Auge, von seiner Lippe tropfte Blut. Orions Gesicht erinnerte mich an ein wildes Raubtier aus den Wäldern.
    Er langte über den Tresen, wo die Empfangsdame schreiend aufstob und flüchtete, schnappte sich ihren Stuhl und schmetterte ihn mühelos gegen die Türen.
    Das Genesungshaus war nicht als Festung gebaut. Das Glas zerbarst, und in einem Regen aus Kristallkügelchen rannten wir ins Freie.
    Irgendwo auf dem Weg brach Star zusammen, und Orion trug sie. Ich ging hinter ihm und beobachtete, wie sich das neue Hemd über seiner Schulter einen Ton dunkler färbte.
    »Kommt uns denn keiner nach?«, fragte ich Lucky, der seine Lippe mit Moons neuem Schal abtupfte.
    »Nein«, sagte er. »Aber sie werden Verstärkung schicken. Wir sollten schleunigst untertauchen.«
    »Zur Schule.« Orion keuchte nicht einmal. »Dort werden wir am wenigsten auffallen.«
    Zum Glück war es nicht weit, aber was das Auffallen betraf, bezweifelte ich Orions Zuversicht. Wir waren viel zu spät dran, und die Wege rund um die Theodor-Frühlingswetter-Schule lagen leer und verlassen da.
    »Da biegen gerade ein paar dunkelgraue Wagen um die Ecke«, sagte Moon, die sich immer wieder umschaute. »Wenn ihr keine Lust auf eine

Weitere Kostenlose Bücher