Wild und frei
Einzige, was er konnte – er ließ den Hals des Pferdes los, beugte sich seitwärts und ließ sich auf den nassen Boden fallen.
Es war ein harter Aufprall, und er verletzte sich dabei die Schulter, beachtete aber den Schmerz nicht und rappelte sich hoch. Er stand auf etwas unsicheren Beinen da, denn nachdem er auf dem Pferderücken dahingeprescht war, musste er sich erst wieder daran gewöhnen, festen Boden unter den Füßen zu haben. Schwankend lief er zu den Klippen.
“Rowena!” Der tobende Sturm übertönte seine Stimme. “Rowena!”
Er blieb stehen und lauschte angestrengt, wartete auf eine Antwort. Doch nichts war zu hören außer den Geräuschen des Regens, des Sturms und dem fernen Grollen des Donners, als das Gewitter landeinwärts zog.
“Rowena!” Er erreichte den letzten niedrigen Hügelkamm, bevor das Moor zu den Klippen hin steil abfiel. Jetzt konnte er hören, wie die Wellen unter ihm krachend gegen die Felsen schlugen.
Wie hatte er nur so leichtsinnig ihr Leben aufs Spiel setzen können? Er hätte wissen müssen, dass sie käme. Er hätte auf sie warten sollen.
Nun stand er am Abgrund und blickte auf die Wellen hinunter. Dort schäumten die dunklen, aufgewühlten Fluten und nagten unablässig mit hässlichen weißen Krallen an den Felsen. Er kauerte sich hin und untersuchte vorsichtig den Boden. Hier … ja, und hier auch, konnte er die großen tellerartigen Abdrücke ertasten, die von den Pferdehufen stammten. Und hier war die Erde aufgewühlt, wo das Pferd hochgesprungen und durchgegangen war. Rowena könnte hier gestürzt sein. Gerade jetzt läge der schöne Körper, den sie ihm so bereitwillig angeboten hatte, womöglich dort unten in der Finsternis auf den Felsen, zerquetscht und blutend wie ein toter Vogel.
Er erinnerte sich an ihren Mut in jener ersten Nacht, als sie sich die Treppe heruntergeschlichen hatte, um ihm den Quilt und das Brot zu bringen, und dann wieder, als er sie mit dem Messer an der Kehle aus dem Haus geschleppt hatte. Dass sie ihn dennoch freundlich behandelte, war ein Wunder an sich. Sie war bemerkenswert, diese große, tapfere, seltsam schöne weiße Frau. Wenn er nun ihren Tod verursacht hatte …
Er wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als er einen flüchtigen Blick auf etwas Weißes erhaschte, das im Schatten eines verkümmerten Busches lag. Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er sah, dass es Rowenas hochgewehtes Unterkleid war. Sie selbst lag mit dem Gesicht nach unten im hohen, nassen Gras, die Arme ausgebreitet, als ob sie versucht hätte, so den Aufprall abzufangen.
Black Otter ging zu ihr hin, legte einen Finger an ihren Hals und stellte fest, dass sie lebte. Ihr Puls war ungleichmäßig, ihr Atem flach, die Haut so kalt wie der Regen, der aus den tief hängenden Wolken nieselte.
Sie stöhnte, als er ihren Körper nach gebrochenen Knochen abtastete und seine Hände unter sie schob, um sie vorsichtig umzudrehen. An ihrer Schläfe hatte sie eine dunkle Wunde, die bereits angeschwollen war. Black Otter kämpfte gegen eine Woge von Niedergeschlagenheit an. Warum war sie ihm gefolgt? Warum war sie nicht in der Sicherheit und Wärme dieses riesigen Hauses geblieben, in das sie gehörte?
Behutsam hob er sie auf. Mit einem leisen Wimmern lehnte sie sich an ihn. Sie schien nicht schwer verletzt zu sein, aber wer konnte schon wissen, wie sehr der Aufprall ihrem Kopf geschadet hatte? Und sie war so durchnässt, so kalt …
Unwillkürlich kam ihm der Sprechgesang über die Lippen, den sein Volk kannte, um Kranke zu heilen. Die Worte waren heilig und kraftvoll, aber er hatte sie noch nie für jemand gesungen, der nicht zu den Lenape gehörte. Würde Rowenas Geist sich für ihre Macht öffnen? Sein Verstand sagte Nein. Sie war nicht von seinem Blut. Sie wusste nichts von seinem Leben. Dennoch sang er leise weiter, mit seiner Stimme und mit seinem Herzen, während er durch den nachlassenden Regen voranschritt.
Rowena bewegte sich etwas, da ihr durchgefrorener Körper sich allmählich erwärmte. Durch den Sturz benommen, nahm sie kaum wahr, dass sie über das Moor getragen wurde, gebettet auf zwei kräftige Arme. Doch sie fühlte sich sicher und geborgen, als ob ein Schutzwall den bitteren Schmerz in ihrem Innern abschirmte.
Die dunkle Stimme sang gerade so laut, dass sie durch den Schleier ihres Bewusstseins drang. Ihr Klang schien von überall her zu kommen. Die Worte – ja, es schienen Worte zu sein. Ihre Bedeutung war ein Geheimnis, aber Rowena spürte,
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