Wild und frei
wie sie von ihnen umströmt und durchdrungen wurde, wie ihre Ängste schwanden und der Aufruhr in ihrer Seele sich legte. Sie klangen schön und kamen ihr seltsam bekannt vor, wie vergessene Worte aus der Kindheit oder eine Sprache, die sie an einem anderen Ort gesprochen hatte, so weit entfernt, dass sie sich nur noch in Träumen daran erinnern konnte. Ihre Seele erhob sich, wurde eins mit dem magischen Lied, schwebend, dahintreibend …
Ein leises Wiehern rief Rowena zurück in die wirkliche Welt. Es stürmte nicht mehr, und auch der Regen fiel nicht länger auf ihr Gesicht. Sie nahm die ihr vertrauten Gerüche von frischem Stroh und Pferden wahr.
“
Kulamalsi.”
Sie wurde abgesetzt und stand zitternd da, wie eine Schlafwandlerin, die an einem fremden Ort aufwachte. Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich wieder in der Wirklichkeit zurechtfand. Dann entschwand der Frieden, den ihr der Gesang gebracht hatte, und die tragische Kette von Ereignissen, die sie hierher geführt hatte, drängte mit aller Macht wieder in ihr Bewusstsein – beginnend mit dem Abend, als ihr Vater den Wilden mitgebracht hatte, in ein Segeltuch gewickelt, an Händen und Füßen in Ketten gelegt und auf der Ladefläche des Rollwagens gefesselt.
In ihrem verwirrten Gemüt erinnerte sie sich an den entstehenden Konflikt mit ihrem Vater, der schließlich in dem Streit gipfelte, der zu seinem Schlaganfall führte. Vielleicht wäre Sir Christopher ohne den Wilden trotz seiner schwachen Gesundheit noch am Leben. Ihr geliebter Vater könnte noch bei ihr sein, und die beiden menschlichen Aasgeier, die sich im Haus eingenistet hatten, wären verschwunden. Ja, es war, als ob die Ankunft dieses Mannes den Fluch von Zwietracht und Tod über Thornhill Manor gebracht hätte.
“Du!” Benommen vor Kummer und Erschöpfung, ging sie auf ihn los. Sinnlose Wut blendete sie, als sie heftig mit den Fäusten auf ihn einschlug. “Warum musstest du hierherkommen und alles durcheinanderbringen? Wir waren glücklich, Vater und ich! Er hatte seine Arbeit und ich mein friedliches Leben! Wir waren zufrieden hier bis zu dem Tag, als er dich mitbrachte!” Die bitteren Worte sprudelten aus ihr hervor, wenngleich sie wusste, dass er wohl kaum etwas von dem verstehen konnte, was sie sagte. “Du warst es, der dieses Unheil über uns gebracht hat – du! Oh, warum bist du nicht auf diesem verdammten Schiff gestorben, ehe es dich hierher bringen konnte?”
Entsetzt über ihre eigenen Worte, verstummte sie plötzlich und sah ihn starr an. Der Wilde konnte sie unmöglich verstanden haben, aber seine Miene hatte sich verfinstert. Er packte ihre Handgelenke so fest wie ein eiserner Schraubstock.
“Rowena. Nein.” Sein Griff wurde noch fester, als sie weiterkämpfte. Seine schwarzen Augen, auf die durch die offene Tür der Schein eines fernen Blitzes fiel, glänzten wie Pechkohle, und für einen Moment glaubte Rowena, dass er sie schlagen wolle. Stattdessen ließ er sie plötzlich los. Davon überrascht, verlor sie das Gleichgewicht und fiel in einen Strohhaufen.
Als sie seine voller Herablassung angebotene Hand nicht ergriff, beugte er sich herab, fasste sie an ihren Oberarmen und zog sie auf die Beine. Erst jetzt sah Rowena die Tränen, die über seine Wangen liefen. Da endlich ließ sie dem Schluchzen, das ihren Körper erschütterte, freien Lauf.
“Rowena …” Er nahm sie in die Arme, wiegte sie und streichelte ihren Rücken, wie um ein ängstliches Kind zu beruhigen.
“Es tut mir – so leid …”, stieß sie an seiner regennassen Brust hervor. “Es ist wegen meines Vaters – er liegt da drinnen – dabei sollte er doch leben und arbeiten und mit mir sprechen – und diese zwei bösen Menschen, die gekommen sind – sie wollen bleiben. Ich habe nicht das Recht, sie hinauszuwerfen. Kein Gericht im ganzen Land würde mich unterstützen und es zulassen, dass eine Frau allein hier das Gut leitet – nicht, solange sie keinen männlichen Verwandten hat, der das tun kann. Verwandter, dass ich nicht lache!”
Sie ballte die Hände zu Fäusten. “Du solltest nur erleben, wie er mich ansieht! Da läuft es mir eiskalt über den Rücken! Und erst diese Frau …”
Nachdem der Ausbruch vorüber war, ließ Rowena den Kopf gegen die Brust des Wilden sinken. Wenn sie ihm nur klarmachen könnte, welcher Albtraum sie im Innern des Gutshauses erwartete. Aber was würde das ändern? John Savage war der Letzte, der ihr helfen könnte. Sie durfte sich nur auf sich selbst
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