Wild und frei
wenig Geld in den Truhen des Herrenhauses befand und fast keine Einkünfte erzielt wurden. Ein großer Teil des Ackerlandes lag brach, schon seit Langem ausgelaugt. Und das Einkommen von den Pächterhöfen war so dürftig, dass Sir Christopher sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, das einzusammeln, was ihm zustand. Für den guten Mann war außer seiner Arbeit kaum etwas von Bedeutung gewesen, und die hatte in seinen alten Tagen nichts eingebracht.
Bosley hatte vorgeschlagen, einige Parzellen des Landes zu verkaufen, aber schnell herausgefunden, dass ihm die Hände gebunden waren, wenn Rowena nicht zustimmte, und sie weigerte sich strikt. Damit war die Angelegenheit erst einmal in eine Sackgasse geraten, während Bosley versuchte, seine Stellung zu stärken.
Und was waren seine Pläne, um mehr Macht zu erlangen? Die Antwort auf diese Frage, so mutmaßte Rowena, war jedes Mal offensichtlich, wenn er sie ansah. Sie lebte in einem Zustand völliger Erschöpfung und fragte sich, wann er den nächsten Schritt machen würde – beinahe überrascht, dass dies nicht bereits geschehen war.
Während dieser dunklen Tage gab es für sie nur einen Winkel, wo es warm und hell war. Sie flüchtete sich dorthin, sooft sie den Zwängen des Hauses entkommen konnte.
In der Morgendämmerung schimmerte der Himmel wie dunkles Perlmutt, als sie die Küchentür öffnete, sie schnell hinter sich schloss und flink über den Hof eilte. Die frische, kalte Luft tat ihr gut. Sie atmete tief durch und genoss den Duft der Sommerblumen, der vom Moor herüberwehte mit dem Salzgeruch des Meeres. Frühmorgens war die einzige Zeit, in der sie frei war – nur dann konnte sie mit John Savage zusammen sein.
Er erwartete sie unter dem Dachvorsprung des Stalles. Seine Gestalt und ungezwungene Anmut ließen selbst seine Kleidung aus gewöhnlichem Wollstoff vornehm erscheinen. Sein Haar, das er trotz Rowenas Drängen nicht schneiden wollte, war mit einem Band aus verknotetem Leder nach hinten gebunden. Seine Haut glänzte wie poliertes Mahagoni im Morgenlicht, die Kette Vögel leuchtend blau auf seiner Stirn. Selbst ausgehungert und krank war er ein gut aussehender Mann gewesen. Jetzt jedoch, im Vollbesitz seiner Gesundheit, war er eine würdevolle, stattliche Erscheinung.
Mein Lord Savage.
Diese Anrede kam ihr wieder in den Sinn, obwohl sie ihn schon seit Langem nicht mehr so nannte.
“Guten Morgen, Rowena.” Dass John Savage so schnell die englische Sprache beherrschte, hatte seinem jungen Lehrer eine stattliche Summe eingebracht. Er sprach immer noch stockend, mit einem eigentümlich singenden Tonfall, aber seine Fortschritte in der neuen Sprache waren erstaunlich, vielleicht auch deshalb, weil er sie an Bord des Schiffes schon so lange gehört hatte.
Wie lange würde sie es noch rechtfertigen können, ihn hier auf dem Gut zu behalten? Rowena stellte sich diese Frage einmal mehr. Wann würde sie gezwungen sein, ihn freizulassen wie einen einst verwundeten Vogel, der seine Flügel wieder benutzen konnte?
“Die Pferde – sie sind bereit.” Wie üblich hatte er die Stute sowie den Wallach gesattelt und aufgezäumt. Diese morgendlichen Ausritte waren die einzige Freude, die es noch in Rowenas Leben gab. Sie liebte sie, wohl wissend, dass sie eines Tages enden würden.
“Sollen wir die Falken holen?”, fragte sie ihn und wurde mit einem aufblitzenden Lächeln belohnt. John Savage hatte die Vögel ihres Vaters fast so lieb gewonnen wie die Pferde.
Sie saßen auf und ritten schweigend vom Hof. Bosley und Sibyl hatten wie üblich bis spät in die Nacht Whist gespielt und würden kaum vor Mittag aufstehen. Aber es bestand immer die Gefahr, dass einer von beiden aufwachte und aus dem Fenster sah. Bisher war es Rowena gelungen, den Wilden außer Sichtweite zu halten. Aber der Gedanke daran, wozu Bosley fähig wäre, wenn er erfuhr, wer John Savage wirklich war, hatte ihr viele schlaflose Nächte bereitet.
Die Käfige hatte man vor langer Zeit in einem kleinen Wäldchen hinter den Stallungen errichtet. Jetzt gab es nur noch zwei Falken in den hohen Gehegen – den kleinen Turmfalken, den Rowena selbst aufgezogen und abgerichtet hatte, und Sir Christophers großen silbrigweißen Gierfalken, einen Vogel aus der nördlichen Tundra, den die Winterstürme nach Süden verschlagen hatten. Rowena und der Wilde blieben zu Pferde, als sie sich die Schutzhandschuhe über die linke Hand streiften, die Vögel an ihren Wurfriemen packten und die dünnen
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