Wild und frei
nach Osten. Sie folgte seinem Blick und sah, dass der Morgen schnell vorübergegangen war. Die Sonne stand hoch am Firmament und schien zwischen den vereinzelten Wolken hindurch. Bald würden Bosley und Sibyl in ihren Kammern aufwachen und den ganzen Haushalt mit ihren gellenden Stimmen und ihren Forderungen in Aufruhr versetzen. Dann würden sie oder die Dienstboten sicher nach ihr suchen.
Der Gierfalke saß bereits wieder auf der behandschuhten Hand des Wilden, angeleint und mit seiner Haube auf dem Kopf, aber der kleine Turmfalke war immer noch in der Luft. Während sie ihn beobachteten, zögerte er für einen Augenblick, stieß dann herab und stürzte sich – unerklärlicherweise – auf einen Schwarm Krähen.
Rowena stöhnte auf, als der winzige Falke in der Luft auf eine der Krähen traf und sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie stürzten über- und untereinander, wirbelten kämpfend durch die Luft. Der Turmfalke war dem viel größeren Vogel eindeutig unterlegen, aber da er seine Klauen nun einmal in den Rücken der Krähe geschlagen hatte, war Rowena klar, dass ihm sein Jagdinstinkt nicht erlaubte, sie wieder loszulassen.
Die beiden Vögel stürzten mit aller Wucht zu Boden. Als sie sich im Gras wälzten, sprang Rowena aus dem Sattel und rannte zu der Stelle, wo sie niedergegangen waren. Die Krähe flog auf, beinahe in ihr Gesicht. Ihr Rücken blutete, wo die Klauen ihn aufgerissen hatten, aber dennoch konnte sie fliegen und schwang sich kreischend und krächzend in die Luft.
Erschöpft und böse zugerichtet, lag der Turmfalke zwischen Unkrautbüscheln auf der Seite. Sein Schnabel stand offen, und als Rowena niederkniete, sah sie, wie sich ein roter Fleck vergrößerte, dort, wo ein Flügel sich gegen den Körper wölbte. Mit einem Laut des Entsetzens nahm sie den Vogel an sich, hüllte ihn behutsam in ihre Röcke und hielt ihn liebevoll an sich geschmiegt. John Savage sah ihr vom Rücken seines Wallachs aus zu. Da der Gierfalke noch bei ihm war, konnte er ihr nicht helfen, aber er beobachtete betroffen, wie sie unbeholfen mit nur einer Hand wieder in den Sattel stieg.
“Wie schlimm?”, fragte er, als sie wieder rittlings oben saß.
“Ich weiß es wirklich nicht”, antwortete Rowena und drängte die Angst beiseite, dass der kleine Falke schwer verwundet sein und vielleicht sterben könnte. “Lass uns zurückreiten. Wenn du den Gierfalken eingesperrt hast, kannst du mir dabei helfen, ihn hier zu untersuchen.”
Sie gaben ihren Pferden die Sporen und galoppierten über das Moor zurück, dorthin, wo eine Achtelmeile vom Haus entfernt das Wäldchen das Gehege abschirmte. Durch den Stoff ihres Rockes spürte Rowena die Wärme des kleinen Körpers des Turmfalken. Sie fühlte, wie sein winziges Herz schlug und das Blut aus seinem Flügel sickerte. Es ist nur ein Vogel, ermahnte sie sich, als Tränen ihr die Sicht nahmen. Sicherlich nur ein Vogel, aber sie hatte das kleine Geschöpf verwöhnt, es gefüttert und abgerichtet. Sie hatte die Schönheit geliebt, mit der er sich durch die Luft schwang, und die Erregung, wenn er blitzschnell seine Beute schlug. Jetzt hielt sie den winzigen Krieger an sich geschmiegt, und er war verwundet, geschlagen und litt Schmerzen.
Der Wilde setzte den Gierfalken auf seine Sitzstange, gab ihm eine der Tauben und verriegelte die Tür des Geheges. Dann, nachdem er den schweren Schutzhandschuh abgestreift hatte, bildete er mit seinen Händen eine Schale und nahm den Turmfalken.
Rowena hatte sich immer für einen Kenner der Vögel gehalten. Aber sie brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass das Wissen des Wilden ihres bei Weitem übertraf. Er wiegte den kleinen Falken auf seiner warmen braunen Handfläche, streichelte ihn sanft und murmelte ihm etwas in seiner Sprache zu. Die Worte und der Klang verbanden sich zu einem sanften Rhythmus, der Rowena umfing und auf sie wirkte wie heilendes Wasser. Sie spürte den Frieden in seiner Stimme – den gleichen Frieden, den sie in jener stürmischen Nacht erfahren hatte, als er sie in seinen Armen über das Moor nach Hause trug.
Sie hielt den Atem an, als er den kleinen gefiederten Körper zu untersuchen begann. Der Turmfalke wehrte sich nicht mehr, vielleicht wegen der beruhigenden Wirkung des Gesanges. Er lag ganz still da und sah den Wilden wie gebannt mit seinen goldbraunen Augen an, als der den verletzten Flügel anhob. Welch sanfte Hände er doch hat, dachte Rowena. Die meisten Männer, die sie kannte, protzten mit ihrer
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