Wild und frei
plötzlich zu erstarren. Die vertrauten Gerüche und Geräusche der Küche nahm sie nicht mehr wahr, alles kam ihr so unwirklich vor.
Thomas zuckte die Schultern. “Nur was ich gesehen und gehört hab – dass der alte Master ihn von Falmouth mitgebracht hat auf dem Karren, und dass der Mann die ersten Tage verrückt vor Fieber war.”
“Weiter nichts?”
“Mistress Sibyl hat nach den Tätowierungen gefragt. Ich hab gesagt, er ist ein Zigeuner, der Kerl, wohl ein Türke oder Portugies, und die Zeichen, das ist bei denen so Brauch. Zigeuner sind eben ein eigenartiges Volk, so ist es doch.”
“Und das war alles?”
“Jawoll, das war alles.” Thomas sah bestürzt aus.
“Aber, Mistress, seht mich doch nicht so böse an. Ist doch kein Geheimnis, dass der Mann ein Fremder ist. Der junge Will erzählt nur Gutes über ihn, aber er will wohl nichts mit uns andern zu tun haben.”
“Ja, so ist er nun mal”, sagte Rowena, und ihr wurde klar, dass Thomas Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen versuchte. Gerüchte verbreiteten sich schnell bei der Dienerschaft. Sicher wussten schon alle, dass Bosley sie gestern in den Armen des Wilden ertappt hatte. Und es würde sie gar nicht überraschen, zu erfahren, dass auch Sibyls Kommen und Gehen letzte Nacht nicht unbeobachtet geblieben war. Diener waren die Augen und Ohren einer Haushaltung. Ob bei Tag oder Nacht, ihnen entging kaum etwas.
“Hab ich was falsch gemacht, Mistress?”
“Nein, Thomas.” Sie berührte seine Schulter, eine seltene Geste der Zuneigung. “Dies ist eine schwere Zeit, das ist alles.”
Sie überließ ihn seinem Frühstück und ging die Treppe hinauf, während sich in ihrem Kopf alles drehte. Edward Bosley war zwar ein anmaßender Grobian, aber beileibe kein Dummkopf. Jetzt, da er sich die Papiere aus Sir Christophers Zimmer angeeignet hatte, würde es sicher nicht lange dauern, bis er herausfand, wer John Savage wirklich war, und dann daraus Kapital schlagen.
Der Wilde war in diesem Land völlig rechtlos. Manche Leute würden sogar behaupten, er sei gar kein richtiger Mensch. Bosley konnte ihn gefangen nehmen und ihn zur Schau stellen wie einen Tanzbären, in Kriegsbemalung und mit Federn, oder ihn einfach meistbietend versteigern. So oder so würde er seine Heimat und seine Kinder nie wiedersehen.
Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie musste dafür sorgen, dass er vom Landsitz verschwand, solange das noch möglich war.
Rowena hastete nach oben, blieb kurz vor Bosleys und Sibyls Tür stehen, um sicherzugehen, dass sich noch niemand rührte. Wieder sah sie Sibyl vor sich, wie sie nach ihrem Stelldichein nackt über den mondbeschienenen Hof schlich, und es war, als ob ihr ein Messer ins Herz stach. Es macht keinen Unterschied, ermahnte sie sich und schob die Erinnerung beiseite. Als Vermächtnis von Sir Christophers Torheit trug sie immer noch die Verantwortung für das Wohlergehen des Wilden. Sie durfte nicht ruhen, bis es ihr gelang, zumindest teilweise das große Unrecht wieder gutzumachen, das ihr Vater ihm zugefügt hatte.
In ihrer Kammer angekommen, verriegelte sie die Tür, fiel auf die Knie und zog das geschnitzte Zedernholzkästchen unter dem Podest hervor, auf dem ihr Bett stand. Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, stellte sie es vor sich auf den Boden und öffnete den an Scharnieren befestigten Deckel.
Darin lag auf dunkelblauem Samtfutter Rowenas Erbe von ihrer Mutter – die einzige Mitgift, die sie besaß. Behutsam nahm sie das Halsband aus feinem Goldfiligran, besetzt mit Granatsteinen, heraus und hielt es in den Sonnenstrahl, der durch das Fenster hereinfiel. Sicher, die Steine waren nicht besonders wertvoll, aber ausgezeichnet verarbeitet, und das Gold war echt – auch die Granatohrringe, die genau zu der Kette passten, und die makellos gleichmäßigen Perlen, von denen sie einen Strang besaß, so lang wie ihr Arm.
Dann waren da noch Armbänder, eins aus schlichtem Gold, das andere aus Silber mit eingelassenen Lapislazuli und drei Ringe, alles erstklassige Stücke. Rowena wusste, sie würde diesen Schmuck niemals tragen. Solcher Tand war etwas für schöne Frauen – sie würde sich damit nur lächerlich machen. Aber es waren Erinnerungen an ihre Mutter, und deshalb hing sie daran.
Würde sie für diesen Schmuck genug Geld bekommen, um ein Schiff in die Neue Welt anzuheuern? Rowena nahm das Geschmeide in beide Hände, den Kopf voller Fragen – wie sollte sie die wertvollen Stücke nach Falmouth bringen, ohne Bosleys
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