Wild und frei
als wären sie ein Liebespaar.
In Gedanken versetzte sie sich an jenen Tag im Moor zurück, als sie sich ihm in die Arme geworfen hatte, entschlossen, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Im Laufe der Zeit begann sie zu hoffen, er habe sie zurückgewiesen, weil seine sittlichen Vorstellungen das verlangten, oder auch, weil er sich um sie sorgte. Wie töricht sie doch gewesen war! Die Wahrheit, der sie nun ins Gesicht sah, war schlicht und einfach, dass er sie nicht gewollt hatte. Sie war nicht die Frau, die ihn reizte. Sibyl dagegen schon.
Sie fühlte sich schon erbärmlich genug, aber jetzt verdüsterte sich ihre Stimmung noch mehr. Sie schloss die hölzernen Läden und wandte sich vom Fenster ab. Was sollte sie nun mit “ihrem” Wilden tun, da sie seinen Anblick nicht länger ertragen konnte? Er war immer noch ihr Gefangener, sie trug für ihn die Verantwortung. Aber wie konnte sie in ihm einen Freund sehen, wenn jeder Blick, jede Berührung, jedes Wort von ihm sie daran erinnerten, was heute Nacht geschehen war?
Es war still im Haus, sodass Rowena durch die verriegelte Tür das rasche Getrippel von Sibyls Füßen und das Öffnen ihrer Kammertür hören konnte. Rowena gab sich alle Mühe, nicht vor Wut loszuheulen. Sie hatte geglaubt, einen treuen Verbündeten an diesem Ort zu haben, einen Freund, dem sie bedingungslos vertrauen konnte. Aber John Savage hatte diese Freundschaft verraten – und ihre Liebe.
Wie sollte sie es nur über sich bringen, den beiden morgen gegenüberzutreten? Wie sollte sie ihnen ins Gesicht sehen, ohne sich vorzustellen, wie sie sich auf dem Dachboden lustvoll vereint hatten?
Aber was macht das schon aus? ermahnte sie sich voller Bitterkeit. Sie musste sich um andere, viel dringendere Angelegenheiten kümmern. Falls Bosley und seine angebliche Halbschwester tatsächlich ihren Vater ermordet hatten, brauchte sie Beweise dafür. Nur dann konnte sie den Wachtmeister benachrichtigen, damit das Pärchen festgenommen und für sein Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde.
Sie ließ sich auf den Bettrand sinken und barg das Gesicht in den Händen, während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste sehr sorgfältig vorgehen und ihre Pläne streng geheim halten. Niemand durfte sie vertrauen – am allerwenigsten dem Mann, dem sie törichterweise ihr Herz geschenkt hatte. Er gehörte jetzt zu den Feinden. Sie konnte sich nur noch auf sich selbst verlassen.
Wie es ihrer Gewohnheit entsprach, standen weder Sibyl noch Bosley an diesem Morgen früh auf. Im Morgengrauen entriegelte Rowena ihre Tür und spähte vorsichtig auf den Flur hinaus. Aus Bosleys Kammer drang lautes Schnarchen, sodass für jeden, der sich in Hörweite befand, kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er tief und fest schlief. Was Sibyl anbelangte … ja, ihre Kammer war dicht verschlossen. Gerade sie würde ja wohl erschöpft genug sein, um wie ein Murmeltier zu schlafen.
Rowena ging in ihre Kammer zurück, zog in aller Eile ihre Kleidung an und steckte sich das Haar auf. Jetzt war sie bereit, die Zeit gut zu nutzen, die sie für sich hatte.
Sie nahm den schweren Schlüsselring und schlich sich den Flur entlang zur Kammer ihres Vaters am gegenüberliegenden Ende. Sie hatte angeordnet, den Raum zu verschließen, sobald Sir Christophers Leichnam hinausgetragen wäre, und niemandem seitdem gestattet, ihn zu betreten. Falls es Beweise für den Mord in dieser Kammer gab, müssten sie noch vorhanden sein.
Während sie sich darauf gefasst machte, von Traurigkeit übermannt zu werden, schloss sie die Tür auf. Seit dem Tod ihres Vaters waren bereits mehr als zwei Monde vergangen. Wären Bosley und Sibyl nicht da gewesen, hätte sie viel eher alles in Ordnung bringen können – aber ohne die beiden wäre Sir Christopher vielleicht noch am Leben.
Für einen Augenblick verharrte ihre Hand auf dem Türriegel, und sie wappnete sich innerlich gegen den Anblick der wohlvertrauten Gegenstände – die Brille auf dem Nachttisch, zerlesene Bücher, Federkiele und Tintenfässer, der abgetragene Morgenmantel, seine Nachtmütze, genauso geformt wie der Schädel ihres Vaters. Sie wusste, ihr würde nach Weinen zumute sein, aber jetzt war nicht die Zeit für Tränen.
Sie schluckte, gab sich einen Ruck und öffnete die Tür. Doch als sie über die Schwelle trat, musste sie innehalten, denn diesen Anblick hatte sie nicht erwartet.
Der Raum war gründlich gereinigt worden – das Bettzeug abgezogen, die Teppiche waren
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