Wild wie das Meer (German Edition)
zurückgekehrt – aber sie war nie wieder schwanger geworden, als hätten sie und ihr Vater einen stummen Pakt geschlossen.
Virginia konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum eine Frau eine Dame sein wollte. Als Dame musste man sich an gesellschaftliche Gepflogenheiten halten. Die meisten Anstandsregeln waren einfach nur lästig, aber einige waren richtiggehend erdrückend. Eine Dame war wie eine Sklavin mit einem feinen Zuhause.
Für Virginia stand der Entschluss bereits fest, als sie vor dem Büro der Schulleiterin stehen blieb. Ganz gleich, ob Sarah Lewis die Wahrheit gesagt hatte oder nicht, es war nicht länger von Bedeutung. Die Zeit war gekommen, nach Hause zu gehen. Tatsächlich fühlte sie sich bei diesem Entschluss gut. Zum ersten Mal nach dem Tod ihrer Eltern fühlte sie sich stark – und mutig. Es war ein wundervolles Gefühl. Genau so hatte sie sich immer gefühlt, bis der Pfarrer ihr an jenem Schicksalstag mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern verunglückt waren.
Sie klopfte an die edle Mahagonitür.
Mrs. Towne, eine rundliche freundliche Dame, bat sie herein. Der Blick, mit dem sie Virginia jetzt bedachte, war ernst, obwohl ihre Augen doch sonst immer so fröhlich aufblitzten. „Ich fürchte, früher oder später wirst du lernen müssen, wie man tanzt, Virginia.“
Virginia verzog das Gesicht. Die einzige Person in dieser Schule, die sie beinahe mochte, war die Direktorin. „Warum?“
Angesichts dieser naiven Frage konnte Mrs. Towne ihr Erstaunen nicht verbergen. „Setz dich, meine Liebe.“
Virginia tat, wie ihr geheißen, und merkte zu spät, dass sie wieder einmal die Knie nicht züchtig zusammendrückte und ihre Arme nachlässig über die Stuhllehnen hängen ließ. Mit einem Räuspern setzte sie sich so hin, wie man es von einer Dame erwartete, nicht weil sie anständig sein wollte, sondern weil sie die Schulleiterin jetzt nicht gegen sich aufzubringen gedachte. Mit züchtig geschlossenen Knien und artig im Schoß gefalteten Händen dachte sie daran, wie wunderbar es jetzt wäre, in ihren Breeches auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen.
Mrs. Towne lächelte. „Es ist doch gar nicht so schwer, sich anzupassen, meine Liebe.“
„Doch, das ist es.“ Virginia konnte sehr störrisch sein. Ein Zug, den ihre Mutter wiederholt beklagt hatte.
„Virginia, Damen müssen tanzen können. Wie willst du dich sonst auf einer Abendveranstaltung amüsieren?“
Virginia nahm kein Blatt vor den Mund. „Ich habe für Abendveranstaltungen nichts übrig, Madam. Ich habe für das Tanzen keine Verwendung. Offen gestanden ist es an der Zeit, dass ich nach Hause gehe.“
Mrs. Towne sah sie mit hochgezogenen Brauen an.
Schon hatte Virginia wieder vergessen, damenhaft auf dem Stuhl zu sitzen. „Es ist doch nicht wahr, was diese bösartige Sarah Lewis gesagt hat, oder? Ich muss doch bestimmt nicht drei weitere Jahre hierbleiben?“
Mrs. Townes Miene wurde hart. „Offenbar hat Miss Lewis gehört, wie ich unter vier Augen mit Mrs. Blakely sprach. Meine Liebe, diese Anordnung haben wir von deinem Onkel erhalten.“
Erschrocken und sprachlos starrte Virginia die Schulleiterin an. Es dauerte einen Moment, ehe sie wieder klar denken konnte.
Zunächst hatte sie befürchtet, der Earl of Eastleigh würde sie zwingen, nach England zu kommen, in ein Land, das ihr vollkommen fremd war. Dieses Schicksal war ihr offenbar erspart geblieben. Aber stattdessen gedachte ihr Onkel sie noch drei Jahre in dieser Schule einzusperren? Sie war erst sechs Monate hier, und doch hasste sie es! So weit wollte Virginia es nicht kommen lassen. Oh nein, sie würde nach Hause gehen.
Mrs. Towne ergriff das Wort. „Ich verstehe, dass einem drei Jahre wie eine Ewigkeit vorkommen, aber wenn ich bedenke, wie du aufgewachsen bist, sind drei Jahre genau die Zeit, die wir benötigen, um dich in alle Bereiche einzuführen, mit denen du vertraut sein musst, um in der Gesellschaft zu bestehen, meine Teure. Und ich habe noch eine gute Nachricht für dich. Dein Onkel möchte, dass du heiratest, sobald du volljährig bist.“
Erschrocken sprang Virginia auf. „Was?“
Die Schulleiterin blinzelte verwirrt. „Ich hätte wissen sollen, dass diese Aussicht dir missfällt. Aber jede wohlgeborene junge Dame vermählt sich, und du bist keine Ausnahme. Der Earl of Eastleigh beabsichtigt, einen geeigneten Gemahl für dich zu ...“
„Das kann er nicht tun!“
Nun war es Mrs. Towne, der es die Sprache verschlagen hatte.
Zorn loderte in
Weitere Kostenlose Bücher