Wild wie das Meer (German Edition)
Wenn wir doch bloß woandershin gehen würden, dachte sie voller Wehmut, und ich nicht seine Mätresse spielen müsste.
„Wir werden nicht lange bleiben“, murmelte er, als habe er ihre Gedanken erahnt.
Eine Minute wäre ihr schon zu lang. Doch diesmal hielt sie ihre Zunge im Zaum.
Er bedachte sie mit einem sonderbaren Blick. „Ich verspreche dir, dass dies bald vorüber sein wird“, sagte er und geleitete sie hinaus.
Das Haus der Carews ähnelte einem Palast. Es lag am Stadtrand von Greenwich, umgeben von Parkanlagen mit altem Baumbestand, und mochte größer als sämtliche Häuser sein, die Devlin sein Eigen nannte. Als Devlins Karosse in den breiten, von Statuen gesäumten Zufahrtsweg einbog und den hübsch angelegten Irrgarten passierte, sah Virginia, dass sich vor dem Haus eine lange Schlange von äußerst eleganten und prachtvollen Kutschen gebildet hatte. Unbehagen kroch in ihr hoch. Während sie geduldig warteten, bis sie an der Reihe wären, vor dem Portal auszusteigen, erkundigte sie sich: „Wie viele Gäste werden erwartet?“
„Einige Hundert, vermute ich“, erwiderte Devlin.
Wie immer sah er blendend in seiner Uniform aus. Virginia war wie gebannt von seinem Anblick, und das Atmen fiel ihr schwer. Doch Devlin schenkte ihr im Augenblick keinerlei Beachtung. Er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein, aber was ihm durch den Kopf gehen mochte, wusste sie nicht. Auch er wirkte auf seine Art angespannt, doch wie immer verstand er es meisterlich, seine Gefühle hinter einer undurchdringlichen Miene zu verbergen.
Einige Minuten später wurde der Schlag ihrer Kutsche geöffnet, und ein livrierter Diener war Virginia beim Aussteigen behilflich. Devlin folgte ihr, und gemeinsam erklommen sie die Stufen der breiten Marmortreppe, die zu einem stattlichen Portal führte. Oben angekommen, standen sie hinter dem Paar, das unmittelbar vor ihnen ausgestiegen war.
„Captain O’Neill, wir sind erfreut, Sie wiederzusehen.“
„Lord Arnold, Lady Arnold.“ Devlin verbeugte sich vor dem lächelnden Ehepaar. „Darf ich Ihnen meine teure Freundin vorstellen, Miss Virginia Hughes?“
Virginia spürte, dass ihre Wangen in Flammen standen, als sich ihr zwei neugierige Augenpaare zuwandten. Lord Arnold war ein untersetzter Mann mit einem freundlichen Gesicht. Seine Gemahlin war keine Schönheit, aber von schlanker Gestalt. Ihre Augen waren hell und klar und verrieten einen wachen Geist. Arnold verbeugte sich; seine Frau nickte lediglich. „Ein herrlicher Abend für einen Ball, nicht wahr, Miss Hughes?“ Er lächelte.
Noch wusste er womöglich nichts von ihrer schmählichen Stellung. Virginia nickte. „Ja, ganz wunderbar“, brachte sie hervor. Sie warf einen Blick auf seine Gemahlin, aber Lady Arnold hatte ein steifes Lächeln aufgesetzt, betrachtete Virginia mit Interesse und schwieg vornehm.
Sie folgten dem Paar ins Haus, und Devlin und Lord Arnold sprachen kurz über einen Gesetzesantrag, dem das Unterhaus unlängst zugestimmt hatte. Virginia bestaunte die grandiose Empfangshalle, von der man über zwei gewundene Treppen zu einer Galerie gelangte. Eine hohe Flügeltür gab den Blick frei auf einen großen Ballsaal, in dem sich bereits an die zweihundert Gäste eingefunden haben mochten. Das Licht unzähliger Kerzen, das sich im Kristall der großen Deckenlüster brach, ließ den Schmuck der anwesenden Damen funkeln.
„Sie sind also Amerikanerin?“, sagte Lady Arnold schließlich, als sie bei den Dienern anstanden, die den Herrschaften Hüte und Mäntel abnahmen.
Virginia zuckte zusammen und schluckte. „Ja.“ Da sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss, fügte sie hinzu: „Zu Hause hatten wir nie derart grandiose Abendveranstaltungen.“
„Und wo sind Sie zu Hause, meine Liebe?“
„In Virginia, Mylady“ Schon rechnete sie mit der nächsten unangenehmen Frage.
„Und wie sind Sie nach England gekommen?“
Virginia befeuchtete ihre Unterlippe. „Meine Eltern starben vor einem Jahr. Mein Onkel ist der Earl of Eastleigh, und ich wollte einige Zeit im Kreise der Familie verbringen.“
„Oh, das tut mir leid, dass Ihre Eltern nicht mehr leben“, sagte Lady Arnold.
Virginia glaubte, dass die Freundlichkeit der Dame nicht gespielt war, denn in ihren klaren Augen lag Wärme. „Haben Sie vielen Dank für Ihre Anteilnahme.“
„Und Captain O’Neill? Ist er ein Freund der Familie?“
Virginia zögerte. Sollte sie das Ganze jetzt hinter sich bringen? Wäre es nicht ratsamer,
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