Wild wie das Meer (German Edition)
gerötet, und er getraute sich nicht, sie anzuschauen. Offenbar nahm er den Befehl seines Kapitäns sehr ernst. „Wohin gehen wir?“
Nach wie vor bewusst an ihr vorbeischauend, antwortete er: „Zur ,Defiance’. Wo ist Ihr Gepäck?“
„In der Kabine unter Deck“, sagte sie, obwohl das Gepäck sie kaum kümmerte.
Gus drehte sich um, packte einen anderen jungen Seemann am Handgelenk und schickte ihn unter Deck, um den Koffer zu holen. Virginia fand sich an der Reling wieder und sah, dass unten im Wasser bereits ein kleines Beiboot auf sie wartete. Sie zauderte, von Verzweiflung niedergedrückt.
Er hatte gesagt, er würde ihr nicht wehtun. Aber sie glaubte ihm nicht. Sie wäre eine Närrin, wenn sie es täte.
Der Atlantische Ozean war bleigrau, weitaus dunkler als die Augen des Piraten, doch die Wellen wirkten genauso bedrohlich. Ein falscher Schritt, und schon wäre sie von den eisigen Fluten verschlungen. Ihr kam der Gedanke, dass eine andere Frau bestimmt den Tod im kalten Wasser wählen würde, um drohendem Ungemach zu entgehen.
Fest umklammerte sie die Reling. Aber sie verspürte nicht den Wunsch, in den Tod zu springen, denn nur ein törichter Mensch setzte den Freitod über das Leben – und sei das Leben noch so bedroht.
„Daran sollten Sie besser gar nicht erst denken“, vernahm sie die Stimme des Piraten, als dieser mit einem katzenartigen Sprung neben ihr landete.
Virginia zuckte erschrocken zusammen und sah ihm in die aufblitzenden grauen Augen.
Er starrte sie an und war wahrlich zornig.
Virginia gelobte, von nun an nicht zu vergessen, dass dieser Mann über ein feines Gehör und scharfe Augen verfügte. Nichts schien ihm zu entgehen. Dennoch erwiderte sie leise, aber nicht minder zornig als er: „Wenn ich springen will, so werde ich es tun, und dann werden selbst Sie mich nicht davon abhalten können.“
Überraschenderweise huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Ist das eine Herausforderung oder eine Drohung?“
Sie schluckte schwer, von seinem Blick und dem unberechenbaren Unterton in seiner Stimme in die Knie gezwungen.
Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Er stand so nah neben ihr, er war so groß, so männlich und so selbstbeherrscht, und als sie begriff, dass dieser Mann ihr nicht erlauben würde, den Freitod zu wählen, verspürte sie ein Prickeln am ganzen Leib, das ihr schier den Atem raubte. Unwillkürlich wich sie zurück, mit einem Mal verwirrt und von Unruhe erfüllt.
„Bringen Sie die Dame auf die ,Deflance’. Und sollte sie auch nur einen Blick aufs Wasser werfen, so verbinden Sie ihr die Augen“, wies er Gus streng an.
Virginia starrte ihn an. Er erwiderte den Blick. In diesem Moment erkannte sie, dass es nutzlos war, den Kampf mit diesem Mann aufzunehmen – sie konnte nur verlieren.
Da hievte Gus sie auf seine Schulter. Sie protestierte lautstark, aber es war zu spät, denn der Bursche kletterte bereits die Strickleiter hinunter in das Beiboot und hielt sie dabei wie einen wertvollen Sack mit Gold. Mit dem Kopf nach unten blickte sie zurück nach oben und sah dem Piraten in die Augen. In dieser erniedrigenden Position vermochte sie nicht klar zu sehen, aber sie hätte schwören können, dass er ihr mit gerunzelter Stirn nachschaute.
Und als sie in das Boot gesetzt wurde, war er bereits verschwunden.
4. KAPITEL
S ee war aufgewühlt, und das Beiboot schaukelte heftig auf den Wellen. Endlich erreichten sie die „Defiance“. Ein Seemann warf Taue hinab, und eine Planke wurde mittels eines Flaschenzuges heruntergelassen. Damit hatte sich Virginias Frage erübrigt. Sie konnte es kaum abwarten, aus dieser schwankenden Nussschale zu steigen.
Von oben starrten sie mehrere Matrosen an. Die unverschämten Blicke bestätigten ihre schlimmsten Befürchtungen. Doch Gus rief scharf nach oben: „Sie gehört dem Captain. Niemand darf mit ihr sprechen oder sie auch nur ansehen. Befehl des Captains!“
Vier zuvor anzüglich grinsende Gesichter wandten sich ab.
Als Gus Virginia Halt bot und ihr auf die Planke half, wunderte sie sich, wie viel Befehlsgewalt O’Neill über seine Crew hatte. Wie gelang es ihm nur, all diese Männer zu unbedingtem Gehorsam zu zwingen? Zweifelsohne war er ein grausamer und unerbittlicher Kommandant.
„Hier entlang“, sagte Gus, erneut ihren Blick meidend. Als sie das große Deck der Fregatte betraten, ließ er ihren Arm los, denn das überaus stattliche Schiff lag weitaus ruhiger in den Wellen als das Beiboot, ruhiger noch als die
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