Wilde Chrysantheme
Frische. Aber unangekündigt möchte ich nicht bei ihr hereinplatzen, deshalb wollte ich fragen, ob Sie mich wohl zu ihrem Zimmer begleiten.«
»Ja, gerne.« Juliana sprang auf ihre Füße. Ihr Reifrock schwang in einem weiten Bogen um sie herum, als sie bereitwillig zur Tür hastete. Ein kleiner runder Tisch wackelte bedrohlich unter dem Ansturm des Reifens, und sie hielt kurz inne, um das Möbelstück festzuhalten, bevor sie eilig weiterstrebte. »Sie fühlte sich schläfrig, als ich sie vorhin verließ, aber es wäre sicherlich hübsch, die Augen aufzuschlagen und einen Strauß frischer Rosen vor sich zu sehen. Wie wundervoll sie sind!«
Quentin lächelte, als sie ihre Nase in den duftenden Blüten vergrub. »Ein Wink an die Bediensteten genügt, daß sie Ihnen ein paar davon schneiden, wenn Sie gern einen Strauß für sich persönlich hätten.«
Juliana blickte kurz auf, voller Sorge, ob er vielleicht ihre Gedanken erraten haben könnte. »Oh, ich würde sie mir auch selbst pflücken«, sagte sie zögernd. »Aber irgend jemand hat bereits Blumen in mein Schlafzimmer und mein Boudoir gestellt.« Sie begleitete ihn den Korridor hinunter zu Lucys Zimmer, während sie wünschte, sie beherrschte die Kunst, Konversation zu machen, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
Leise öffnete sie Lucys Tür und schlich auf Zehenspitzen hinein, um einen vorsichtigen Blick hinter die Bettvorhänge zu werfen. Lucy schlug die Augen auf und schenkte ihr ein müdes Lächeln.
»Lord Quentin hat Ihnen ein paar Rosen gebracht.« Juliana trat beiseite, damit Quentin sich dem Krankenbett nähern konnte. »Ich werde gleich nach der Zofe läuten, damit sie sie ins Wasser stellt.« Sie griff nach der Klingelschnur und wich dann zurück, falls Quentin allein mit Lucy sprechen wollte. Vielleicht hatte er ja die Absicht, ein seelsorgerisches Gespräch mit ihr zu führen. Aber Quentin benahm sich heiter und eher onkelhaft-wohlwollend als wie ein Geistlicher, erkundigte sich nach Lucys Befinden und legte die Rosen auf ihren Nachttisch.
»Die Zofe wird sich um eine Vase kümmern. Ich möchte Sie nicht in Ihrer Ruhe stören.«
»Danke, Sir.« Lucys Lächeln hellte sich sichtlich auf. »Ich weiß gar nicht, was ich getan habe, um soviel Freundlichkeit zu verdienen.«
»Sie brauchen sie sich nicht zu verdienen«, warf Juliana entrüstet ein. »Wenn jemand so schlimm mißhandelt wurde, dann hat er Anspruch auf alles Mitgefühl und alle Fürsorge, die anständige Menschen aufbringen können. Ist es nicht so, Lord Quentin?«
»In der Tat«, bestätigte er, während er sich insgeheim fragte, warum er ihre leidenschaftliche Erklärung als eine so neuartige Vorstellung empfand. Als Geistlicher hätte eigentlich er derjenige sein sollen, der das Prinzip christlicher Nächstenliebe darlegte, doch irgendwie war er gar nicht auf die Idee gekommen. Die Armen waren für ihn ein Bestandteil des Lebens. Grausamkeit und Gleichgültigkeit begegneten ihnen auf Schritt und Tritt. Wenn er überhaupt jemals an ihr Elend gedacht hatte, dann höchstens als eines der unvermeidlichen Übel dieser Welt. Der reiche Mann in seinem Schloß, der arme Mann an seinem Tor. Juliana öffnete ihm die Augen für ganz neue Betrachtungsweisen.
Lucys Miene verriet Erstaunen und Ungläubigkeit, und Quentin war froh, daß wenigstens er seine Überraschung über Julianas revolutionäre Doktrin unterdrückt hatte. »Ich überlasse Sie jetzt wieder ihrer wohlverdienten Ruhe«, sagte er zu Lucy. »Aber sollten Sie jemals mit mir sprechen wollen, dann schicken Sie bitte nach mir.« Er verbeugte sich und eilte aus dem Raum.
»Worüber sollte ich denn mit ihm sprechen wollen?« fragte Lucy verwirrt, als sie sich mühsam auf einen Ellenbogen stützte. »Ich würde es nicht wagen, ihn zu mir zu rufen.«
»Er ist Geistlicher«, informierte Juliana sie, als sie sich auf die Bettkante setzte. »Wenn Sie also etwas auf dem Herzen haben, steht er Ihnen natürlich zur Verfügung.«
»Ah, ich verstehe!« Lucys Verwirrung schwand. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Juliana. Ich fühle mich schon viel kräftiger.
Juliana erzählte ihr so viel, wie die anderen Mädchen wußten, und unterbrach sich, als eine Zofe hereinkam, um die Rosen in eine Vase zu stellen. Henny kam wenige Minuten später mit einem Becher heißer Milch mit Honig herein, und Juliana verabschiedete sich von Lucy, um sich fürs Dinner umzuziehen.
In ihrem Schlafgemach betrachtete sie sich im Spiegel und runzelte mißbilligend
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