Wilde Chrysantheme
läßt mich also endgültig fallen, Tarquin?« Lucien wollte sich aufrichten, sank indessen kraftlos gegen die Wand. Seine tiefliegenden Augen glitzerten plötzlich unheilverkündend. »Einmal hast du mir versprochen, du würdest mich niemals aufgeben. Du hast gesagt, du würdest immer zu mir halten, selbst wenn mich alle anderen im Stich lassen. Es hieß, Blut wäre dicker als Wasser. Erinnerst du dich?« Seine Stimme hatte jetzt einen winselnden Unterton, doch seine Augen glitzerten immer noch, von einem seltsamen Triumph erfüllt.
Tarquin starrte ihn in einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. »Das ist lange her«, erwiderte er. »Damals warst du ein zwölfjähriger Lügner und Dieb, und ich habe in meiner gottverdammten Naivität geglaubt, es wäre vielleicht nicht deine Schuld. Daß du von der Familie akzeptiert werden müßtest, um dazuzugehören…«
»Du hast mich niemals in der Familie akzeptiert«, unterbrach Lucien ihn, während er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte. »Du und Quentin, ihr habt mich vom ersten Moment an verabscheut.«
»Das ist nicht wahr«, korrigierte Tarquin. Im Zweifelsfall haben wir immer zu deinen Gunsten entschieden, da wir wußten, unter welch ungünstigen Umständen du aufgewachsen bist.«
»Ungünstige Umstände!« höhnte Lucien. »Ein wahnsinniger Vater und eine Mutter, die nie ihr Bett verließ.«
»Wir haben getan, was wir konnten«, sagte Tarquin, noch immer ruhig. Aber während er dies bekräftigte, fragte er sich wie schon so oft, ob es den Tatsachen entsprach. Freilich hatten er und Quentin ihren dürren, hinterhältigen, gerissenen Cousin verachtet, aber sie bemühten sich, ihre Verachtung zu verbergen, als Lucien zu ihnen übergesiedelt war, um bei ihnen zu leben. Als dann Tarquin sein Vormund geworden war, gedachten sie beide, einen günstigen Einfluß auf den abartigen Charakter auszuüben. Sie hatten es versucht und ganz eindeutig versagt.
Einen Moment lang begegnete er dem haßerfüllten Blick seines Cousins, und die kalte, hoffnungslose Wahrheit ihrer Beziehung lag offen vor ihnen. Dann sagte Tarquin mit eisiger Beherrschung: »Verschwinde aus meinem Haus, Edgecombe, und komm mir nicht wieder unter die Augen. Von diesem Moment an will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.«
Luciens Mund verzog sich zu einem hinterhältigen Lächeln. »Und wie soll das aussehen? Ehemann und Ehefrau, die nach einigen wenigen Tagen des Glücks schon wieder getrennt leben?«
»Es kümmert mich einen Dreck, wie das aussehen wird. Ich dulde nicht, daß du dieselbe Luft wie Juliana atmest.« Tarquin wandte sich angeekelt ab.
»Ich werde sie verstoßen«, keuchte Lucien. »Da muß eine Scheidung her, weil sie eine Hure ist!«
Tarquin drehte sich ganz langsam wieder zu seinem Cousin um. »Du bist nicht gut genug, um den Schmutz von ihren Stiefeln zu kratzen«, sagte er mit erbittertem Nachdruck. »Und ich warne dich, Edgecombe. Wenn du ein Wort gegen Juliana sagst, ob in der Öffentlichkeit oder privat, dann werde ich dich frühzeitig ins Grab schicken, sogar noch schneller, als du es selber schaffst.« Seine Augen schössen Blitze und brannten die Wahrheit in die abscheulich verzerrten Züge seines Cousins. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte davon.
»Das wirst du noch bereuen, Redmayne. Glaub mir, das wirst du bitter bereuen!« Aber das Versprechen war kaum mehr als ein Geifern, und der Herzog hörte es nicht mehr. Lucien starrte ihm voller Furcht und Vergeltungsdrang nach. Dann schleppte er sich den Korridor entlang in seine eigene Suite und besänftigte seine zutiefst gedemütigte Seele mit der Verheißung von Rache.
20. Kapitel
Es dämmerte bereits, als Lucien Mistress Jenkins' Elysium in Covent Garden verließ. Er trug die höchst zufriedene Miene eines Mannes zur Schau, der sich sowohl seelische als auch körperliche Erleichterung verschafft hat. Mistress Jenkins' Etablissement war der ideale Ort, um seine Wut und Erbitterung loszuwerden. Die
Posture Molls
verstanden sich darauf, die Bedürfnisse eines Mannes zu befriedigen, ganz gleich, auf welcher Seite der Peitsche er am liebsten war; so hatte er seinem brennenden Verlangen, jemanden für die Demütigung seines Debakels mit seiner Ehefrau zu bestrafen und seinen Zorn über Tarquins darauffolgenden Erlaß abzureagieren, freien Lauf gelassen.
In seinen Augen glimmte es böse, und um seinen Mund lag ein grausamer Zug, als er die Russell Street hinaufschlenderte und den Marktplatz betrat. Aber
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