Wilde Chrysantheme
an seinem Ohrläppchen zu zupfen. Zufällig hatte er einen Schlüssel zu der Seitentür. Vor einigen Jahren, als junger Bursche, hatte er einmal einen Nachschlüssel anfertigen lassen. Tarquin war ein zum Verzweifeln strenger und wachsamer Vormund gewesen, und Lucien musste sich häufig einer List bedienen, um die Regeln des Herzogs zu umgehen und seinem Aufpasser zu entwischen.
»Vielleicht habe ich einen«, gab er nach einer Pause zu. »Ins Haus hineinzukommen dürfte kein allzu großes Problem sein.
Aber unbemerkt hinauszugelangen, wenn diese rothaarige Amazone kreischt und zappelt, ist eine andere Sache.«
»Sie wird keinen Muckser von sich geben«, versicherte George in demselben zuversichtlichen Tonfall.
»Wie das?« Lucien legte fragend den Kopf schief.
»Dafür übernehme ich die Verantwortung.«
Lucien musterte Georges grimmigen Ausdruck einen Moment lang, dann nickte er langsam. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Meine unzumutbare Ehefrau tut mir fast schon wieder leid. Ich frage mich, was wohl passiert sein könnte, das einen solch brutalen Drang in Ihrer Brust weckt, guter Freund.« Er wartete, doch es erfolgte keine Erklärung. Ridges Zurückhaltung verstärkte seine Neugier noch um ein Hundertfaches, aber er war bereit, den rechten Augenblick abzuwarten. »Übrigens, gibt es da noch eine kleine Erschwernis«, fuhr er in nachdenklichem Ton fort. »Mein geschätzter Cousin hat das Schlafgemach direkt neben unserem Opfer. Ich könnte mir vorstellen, daß er die Nähe recht bequem findet.«
»Sie wissen genau, daß Juliana seine Mätresse ist.« Georges Stimme klang gepreßt. Ihm war das längst klar, aber er wollte es bestätigt hören.
»Warum würde sich mein Cousin wohl sonst so für das Weibsbild interessieren?« Lucien zuckte die Achseln. »Es ist noch niemals vorgekommen, daß er eine Frau unter seinem Dach beherbergte. Ich habe den Verdacht, daß es ihn zutiefst bestürzen wird, sie zu verlieren.« Er grinste. »Gerne setze ich alle Hebel in Bewegung, meinen Cousin morgen von zu Hause fortzulocken. Für uns wäre es wirklich das beste, wenn er sich anderswo aufhielte, während wir sein Herzblatt entführen.. Ah, na endlich! Dick mit dem Trunk, der so aufheiternd wirkt. Wir werden auf dieses Unternehmen anstoßen. Stell die Flasche dort auf den Tisch, Mann. Es ist wirklich nicht nötig, daß du einschenkst. Ich bin durchaus in der Lage, das selber zu tun.«
George nahm das verschmierte Glas, das ihm sein Gastgeber reichte. Er trank, den Blick einen Moment nach innen auf seine Rache gerichtet – von blankem Wahnsinn erfaßt. Der Herzog von Redmayne hatte Dämonen entfesselt mit seinem Versuch, Sir George Ridge in seine Schranken zu weisen.
Tarquin zügelte bei seiner Ankunft in der Albermarle Street die Pferde. Ted erschien wie von Zauberhand herbeibeschworen und eilte die Stufen mit einer Leichtfüßigkeit herab, die verblüffend für einen so großen, schweren Mann war. Er hatte die Geschichte des Kutschers gehört, die in Windeseile unter den Bediensteten die Runde machte, und funkelte Juliana jetzt böse an, als wäre ihr schreckliches Abenteuer eine persönliche Beleidigung für ihn.
»Kümmern Sie sich um das Gespann, Ted.« Der Herzog sprang vom Kutschbock und streckte eine Hand aus, um erst Juliana beim Aussteigen behilflich zu sein, dann Lilly. Er nahm Rosamund aus Quentins Armen, damit sein Bruder das Gefährt verlassen konnte, dann reichte er die noch immer reglose Gestalt an Quentin zurück und marschierte vor der kleinen Gruppe ins Haus.
»Catlett, rufen Sie die Haushälterin, damit sie diese beiden jungen Damen in ein freies Schlafzimmer bringt. Und schicken Sie eine Zofe hinauf, die sie zu Bett bringt. Bitten Sie dann Henny, sofort in Lady Edgecombes Räume zu kommen.«
»O nein!« rief Juliana. »Nein… ich brauche Henny nicht. Sie muß Rosamund versorgen. Ich kann mich wirklich um mich selbst kümmern, aber Rosamund ist dringend auf kundige Pflege angewiesen.«
Tarquin ergriff ihre Hände und drehte ihre Handflächen herum. »Solange deine Hände in diesem Zustand sind, kannst du nichts für dich selbst tun. Wenn du Henny nicht haben willst, dann werde
ich
das übernehmen.«
»Es ist wirklich nicht nötig, daß Sie sich die Mühe machen,
Sir.« Ihre Stimme klang gepreßt. »Ich brauche keine Krankenschwester.«
Ungeduld blitzte in seinen Augen auf. Er holte scharf Luft und sagte: »Einer von uns beiden wird sich um dich kümmern, entweder Henny oder ich. Du kannst es
Weitere Kostenlose Bücher