Wilde Flammen
verhakte einen Fuà in der Seilschlaufe und begann sich in perfekter Ãbereinstimmung mit den anderen elf Schmetterlingen zu drehen.
Als sie einige Zeit später das Kostüm zur Garderobe zurückbrachte und in das nächste Trikot schlüpfte, gönnte sie sich eine Tasse Kaffee bei Roses Mutter. Ihre Muskeln schmerzten wegen des ungewohnten Gewichts der Schmetterlingsflügel, und in Gedanken malte Jo sich ein langes heiÃes Bad zur Entspannung aus. Doch bis Ende September würde dieser Luxus nur ein Traum bleiben. Während der Saison war immer nur Zeit für eine schnelle Dusche.
Bei ihrem letzten Auftritt des Tages stand Jo im weiÃen Trikot auf dem Kopf von Maggie, der Elefantenkuh. Gemeinsam mit vier weiteren Elefanten bildete die zuverlässige Maggie eine Kette, bei der jeder Elefant die Vorderbeine auf den Rücken des nächsten Tieres gelegt hatte. Hoch oben auf Maggies Kopf reckte Jo die Arme in die Luft. Das Licht der Scheinwerfer brach sich in den glitzernden Pailletten des Trikots und lieà Jo strahlen.
Der donnernde Applaus mischte sich mit der Musik, dem Lachen der Kinder und den Schlussworten des Zeremonienmeisters. In diesen Momenten fühlte Jo sich immer voller Energie und Leben. Später würde unweigerlich die Müdigkeit folgen, doch diese kurzen Minuten genoss Jo in vollen Zügen. Es war die Belohnung für all die harte Arbeit, die langen Stunden, die schmerzenden Muskeln. Das war der Zauber, den der Zirkus auf die Menschen ausübte. Auch als Jo von Maggies Kopf herunterstieg, hielt das Gefühl an.
Nach der Vorstellung schlenderten Artisten, Helfer und Gelegenheitsarbeiter über das Gelände. Man redete über die Show, kommentierte einzelne Nummern, erzählte sich Anekdoten. Nach und nach zogen sich alle in ihre Wagen zurück. Manche würden sich umziehen und beim Zeltabbau helfen, andere würden müde ins Bett fallen oder sich überlegen, wie sie ihre Show noch verbessern konnten.
Zu aufgedreht, um schlafen zu können, beschloss Jo, sich umzuziehen und bei den Zelten mitzuhelfen.
In ihrem Wohnwagen schaltete sie nur die kleine Lampe an. Auf dem Weg in das winzige Badezimmer flocht sie sich das Haar zu einem Zopf. Mit routinierten Gesten entfernte sie vor dem Spiegel das Bühnen-Make-up. Ihre Augen, durch die Schminke übergroà und exotisch, wirkten wieder normal, das Grün nur umrandet von dem Kranz dunkler Wimpern. Auch der Mund war ohne das leuchtende Rot weniger dramatisch, wirkte schmaler und kindlicher.
Jo war zu sehr an diese zwei verschiedenen Gesichter gewöhnt, als dass ihr der scharfe Kontrast zwischen Jolivette, der Artistin, und der grazilen Frau, die ihr dort aus dem Spiegel entgegenblickte, aufgefallen wäre. Jetzt wirkte sie jung und verletzlich, auch wenn ihr noch immer die Anziehungskraft von ungebändigter Wildheit anhaftete.
Bevor sie dazu kam, das Trikot auszuziehen, klopfte es an ihrer Tür.
»Herein.« Sie warf sich den Zopf über die Schulter zurück und ging, um zu öffnen. Mitten im Schritt hielt sie jedoch inne, als Keane den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Hat dir nie jemand beigebracht, dass man erst fragt, wer drauÃen steht, bevor man ihn hereinbittet?« Er schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie mit einer lässigen Handbewegung. »Vor den Zirkusleuten brauchst du sicherlich nicht abzuschlieÃen, aber auf dem Platz lungern noch immer Besucher aus der Stadt herum.«
»Mit einem neugierigen Städter werde ich schon fertig«, erwiderte Jo. Keanes anmaÃende Art ärgerte sie. »Meine Tür ist niemals verschlossen.«
Ãrger und Distanziertheit lagen in ihrer Stimme, Keane ignorierte es. »Ich habe dir etwas aus Chicago mitgebracht.«
Das nahm Jo den Wind aus den Segeln, der Ãrger verflog. Erst jetzt sah sie das Päckchen, das er in den Händen hielt. »Was ist es denn?«
Lächelnd kam Keane auf sie zu. »Nichts, was beiÃen könnte.« Damit reichte er ihr das Paket.
Argwöhnisch betrachtete sie es. »Ich habe doch gar nicht Geburtstag.«
»Und Weihnachten ist auch nicht«, ergänzte Keane.
Das Lächeln in seiner Stimme lieà sie den Blick heben. Sie fragte sich, woher er wusste, dass sie sich bei Geschenken immer unwohl und irgendwie verlegen fühlte. »Herzlichen Dank«, sagte sie förmlich und nahm das Päckchen an.
»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte er ebenso
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