Wilde Flucht
nach Hause möchte.«
Buster hob die Hände und sagte: » Wow!« Dann trollte er sich mit süffisantem Lächeln.
Ginger Finottas Blick hatte die ganze Zeit auf dem Gesicht ihres Gegenübers geruht, und Marybeth überlegte, ob sie etwas über das Verhältnis zwischen Jim Finotta und Joe wusste. Es war schwer zu sagen, wie klar sie war. Sie war eine Gefangene ihrer verdrehten und gequälten Gestalt.
» Sie müssen mehr über Tom Horn erfahren«, sagte Ginger und tippte auf das Buch auf dem Tisch. Es hieß Der Viehdetektiv Tom Horn und seine Zeit.
» Und warum?«
Die Frage hing in der Luft, während Gingers Augen sich schlossen, erst langsam, dann so fest, dass ihr Gesicht zitterte. Sie schien mit etwas zu ringen. Als sich ihre Lider wieder öffneten, waren ihre Augen seltsam ausdruckslos.
» Weil man die Gegenwart leichter versteht, wenn man die Vergangenheit kennt. Man begreift dann, warum wir tun, was wir tun.«
» Was meinen Sie damit?«, fragte Marybeth ruhig.
Ginger musterte ihr Gesicht. Sie wollte offensichtlich antworten, konnte es aber plötzlich nicht. Ihre Miene zitterte, und winzige Muskeln und Sehnen tanzten unter der wachspapierartigen Haut. Sie schien darum zu ringen, das Zucken zu beherrschen und ihren Körper unter Kontrolle zu bekommen, doch als sie den Mund öffnete, bildete sich nur eine Speichelblase, und sie brachte bloß ein zorniges Zischen hervor. Ihre Augen verrieten ihre ungeheure Enttäuschung.
Marybeth konnte nicht erkennen, worauf das hinauslief und ob Ginger Finotta wirklich Hilfe brauchte, doch sie musste an den Schalter am Eingang zurück, wo eine Frau mit zwei Kindern einen Arm voller Bücher entleihen wollte.
» Alles in Ordnung, Miss Finotta?«
Die Frau nickte.
» Ich werde das Buch über Tom Horn lesen, wenn Sie damit fertig sind«, sagte Marybeth mit gezwungenem Lächeln. » Versprochen. Aber jetzt muss ich wieder an den Schalter. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie noch etwas brauchen.«
Als Marybeth sich abwandte, zuckten Gingers dünne Hände auf dem Tisch. Mrs. Finotta versuchte vergeblich, die Rechte zu heben und Marybeth aufzuhalten.
» Sie verstehen nicht!«, kreischte sie plötzlich.
Ihre Stimme ließ Marybeth erstarren. Sie drang durch die gesamte Bibliothek. Die Leser im kleinen Foyer senkten ihre Zeitungen. Die am Schalter wartende Benutzerin und ihre Kinder drehten sich um und musterten die Zitternde. Buster tauchte mit grimmiger Miene aus dem Zeitschriftengang auf.
» Geht es Ihnen gut?«, fragte Marybeth.
» Sieht es für Sie etwa so aus?«
Marybeth war verwirrt. » Was verstehe ich nicht?«
Ginger Finotta ließ ihren wässrigen Blick über die Zimmerdecke gleiten und sah Marybeth dann erneut an. » Ich weiß, wer Sie sind und wer Ihr Mann ist.«
Marybeth spürte ein Frösteln das Rückgrat hinauflaufen und an ihren Haarwurzeln ziehen.
» Deshalb müssen Sie über Tom Horn Bescheid wissen«, sagte Ginger Finotta schrill.
» Gehen wir«, stieß Buster hervor, der plötzlich hinter ihr aufgetaucht war, zog den Rollstuhl grob vom Tisch weg und machte sich zum Ausgang auf. Ginger presste das Buch an die eingefallene Brust, als rettete sie es aus einem Brand.
» Verzeihung, meine Damen«, rief Buster mit tanzendem Zahnstocher über die Schulter. » Mrs. Finotta geht es nicht so gut, und sie braucht ihre Ruhe. Wiedersehen!«
Marybeth stand stocksteif da und fragte sich, was eben passiert war. Sie sah zu, wie Buster Mrs. Finotta viel zu rasch den Gehweg entlang zu dem Wagen mit Behindertenlift schob, den er neben dem Eingang geparkt hatte. Dann öffnete sie langsam die Fäuste und holte tief Luft.
An diesem Abend erzählte sie ihrem Mann von dem Erlebnis, das sie mit Ginger Finotta in der Bibliothek gehabt hatte.
» Mit seiner Frau?«, fragte Joe erstaunt. » Das ist seine Frau?«
Er sagte, er habe schon von Tom Horn gehört und vor langer Zeit ein Buch über den berüchtigten Viehdetektiv gelesen.
» Ich versteh das nicht«, sagte er verwirrt.
» Ich auch nicht«, pflichtete Marybeth ihm bei. Sie war noch immer erschüttert.
12
Auf der Autobahn, westlich von Missoula, Montana
27. Juni
Die Frühnachrichten im Radio des Pick-up ließen den Alten erwachen. Er hatte geträumt, böse zu sein. Es war ein Traum wie jeder andere gewesen, doch aus veränderter Perspektive. Er hatte sich von außen gesehen, und seine Traumgedanken waren finster, lebhaft und bizarr. Die Menschen waren nur leer dreinblickende Handlanger gewesen, die er seinem Willen
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