Wilde Flucht
persönliche Fragen nicht und schwieg deshalb, wie er auch schon auf die anderen persönlichen Fragen des Alten geschwiegen hatte.
Der Alte drehte sich um und sah durch die Rückscheibe auf die Ladefläche des Pick-up.
» Wo sind der Computer und das andere Zeug von Powell?«
» In einer Schlucht am Lookout Pass«, sagte Charlie. Dieser Pass verband Idaho mit Montana.
» Ich hab nicht mal gemerkt, dass wir gehalten haben.«
» Ich weiß.«
Charlie schien dem Alten zu verübeln, dass er nachts schlief. Er schien alles zu verübeln, was nach menschlicher Schwäche aussah. Der Alte erinnerte sich an den Blick, den Charlie ihm in Powells Haus zugeworfen hatte, als er Powells Kopfverletzungen nicht hatte sehen wollen.
» In der Thermoskanne ist noch Kaffee«, sagte Tibbs.
» Charlie, träumst du eigentlich viel?«, fragte der Alte, nahm die Kanne und schüttete den restlichen Kaffee in ihre Becher. Er wusste, dass diese Frage Tibbs ärgern würde – deshalb stellte er sie ja. Ausgerechnet bei der Nachricht von Sollitos Tod aufgewacht zu sein, hatte ihn beunruhigt und ihm das Verbrechen unvermittelt wieder vor Augen gerückt. Die Szene in Washington D.C. war für den Alten besonders verstörend gewesen – viel schlimmer als das, was in den Bighorns oder in Hayden Powells Haus geschehen war. Sollito hatte selbst dann noch um sein Leben gebettelt, als sie ihm die zweite Flasche Champagner eingeflößt hatten und er nur noch hatte lallen können. Er hatte zu fliehen versucht – vergeblich. Er hatte dem Alten tief in die Augen gesehen und um Gnade gefleht – eine Gnade, die ihm nicht gewährt worden war.
Charlie beantwortete die Frage nicht. Sie schien ihm unangenehm zu sein, und er zuckte die Achseln.
» Ich hatte einen furchtbaren Traum«, sagte der Alte und nahm einen Schluck Kaffee. » Ich träumte, ich sei ein böser Mensch geworden. Dann bin ich aufgewacht und habe noch immer das Gefühl, böse zu sein.«
Der Alte wartete auf eine Reaktion. Er wusste, dass er Charlie provozierte.
» Das ist ein schlechter Traum«, sagte der schließlich. » Vergiss ihn einfach. Du bist kein böser Mensch.«
» Das habe ich auch nicht gesagt«, gab der Alte zurück. » Ich habe nur gesagt, dass ich mich beim Aufwachen als böser Mensch gefühlt habe.«
» Du bist ein Held, und unsere Arbeit ist heldenhaft«, sagte Charlie auf eine Art, die keinen Widerspruch duldete.
Der Alte rieb sich den Schlaf aus den Augen. » Ich glaube, ich brauche ein richtiges Bett und richtigen Schlaf. Ich hoffe, das bekomme ich dort, wohin wir unterwegs sind.«
» Das hoffe ich auch für dich«, sagte Charlie. Diese Bemerkung zielte erneut auf die Schwäche des Alten. Charlies verschlossene Miene ließ keinen Zweifel daran, dass das Gespräch für ihn beendet war.
Nach einiger Zeit räusperte er sich. » Unseren Auftraggebern ist zu Ohren gekommen, dass einige irre Umweltschützer glauben, Stewie Woods sei noch am Leben, da seine Leiche nicht gefunden wurde.«
Der Alte schnaubte verächtlich. » Den hat’s in tausend Stücke zerrissen.«
» Da sieht man wieder, wie verrückt manche dieser Leute sind. Ich schätze, im Internet steht darüber einiges.«
Der Alte schüttelte nur den Kopf und lachte in sich hinein. Die Morgensonne wärmte seine Oberschenkel durch die Frontscheibe.
» Sie glauben das doch nicht, oder?«, fragte der Alte. » Unsere Auftraggeber, meine ich.«
» Nein.«
Der Alte nahm einen weiteren Schluck Kaffee und sah Charlie beim Lenken zu. Das tat er gern. Tibbs strahlte enorme Kompetenz aus, und Kompetenz war etwas, das der Alte bewunderte, weil sie so überaus selten zu finden war. Mit Charlie Tibbs wusste man immer, wohin man fuhr und warum. Er tat die Sorgen, die er sich in der Nacht wegen Tibbs gemacht hatte, als Zeichen von Stress und Übermüdung ab.
Doch das Gefühl, das der Traum in dem Alten geweckt hatte, wollte nicht weichen.
13
Am gleichen Morgen bekam Joe gut neunhundert Kilometer südöstlich von Missoula, Montana, einen Anruf. Ein Mann, der eine der Elkhorn Ranches erworben hatte und dort eingezogen war, meldete einen Puma und behauptete, er sei von ihm beschlichen worden. Joe notierte sich die Adresse und sagte, er werde bald vorbeikommen.
» Beeilen Sie sich besser, oder ich knall das verflixte Vieh ab«, entgegnete der Hausbesitzer.
Auf dem Weg nach draußen blieb Joe am Frühstückstisch stehen, um den Mädchen einen Kuss zu geben, und beklagte sich im Scherz über ihre » nassen Milchküsse«,
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