Wilde Flucht
was sie aufheulen ließ. Selbst Sheridan, die doch schon zehn Jahre alt war, beteiligte sich noch an der gespielten Empörung über die morgendlichen Neckereien ihres Vaters. Entweder ging es dabei um » Frühstücksküsse«, oder er machte ihnen allen Komplimente wegen ihrer entzückenden Frisuren, bevor sie sich angezogen und für die Schule gekämmt hatten.
Marybeth folgte ihm aus der Haustür. Joe war bereits bei dem grünen Pick-up der Jagd- und Fischereibehörde, ehe er merkte, dass sie ihn begleitet hatte. Maxine kam aus dem Haus gestürmt und sprang ins Führerhaus.
» Ich bin noch immer verwirrt über das, was gestern in der Bücherei passiert ist«, sagte Marybeth. Joe hoffte auf mehr.
Er nickte und drehte sich zu ihr um.
Marybeth schüttelte den Kopf. » Diese Frau tut mir entsetzlich leid, doch sie hat mir Angst gemacht.«
» Durch ihr Aussehen oder ihre Worte?«, fragte Joe, nahm sie in den Arm, schob ihren Kopf unter sein Kinn und blickte zum Wolf Mountain, ohne ihn wirklich zu sehen.
» Durch beides.«
Ihr Haar roch frisch, und er küsste sie auf den Kopf.
» Beim ersten Mal hatte ich auch Angst vor ihr«, sagte Joe. » Ich hatte den Eindruck, sie lauere mir auf.«
» Ich schäme mich, sie so abstoßend zu finden«, sagte Marybeth leise. » So eine Krankheit kann jeden treffen.«
Joe wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er dachte selten in solchen Begriffen. Im Moment wollte er sie nur weiter umarmen. Er war dankbar für diesen Augenblick.
» Diese Tom-Horn-Sache ist mir ein Rätsel«, fuhr sie fort. » Ich weiß noch immer nicht, ob Ginger Finotta bloß verrückt ist oder ob sie mir etwas sagen will.«
» Vielleicht sollten wir uns über den Jungen genauer informieren«, schlug Joe vor.
» Ich warte darauf, dass sie das Buch wieder abgibt«, sagte Marybeth. » Die Bibliothek hat nur ein Exemplar davon. Ich hab am Computer recherchiert, um es anderswo zu finden, aber dieser Titel ist wirklich selten. Nur in Bend, Oregon, gibt es noch eine Ausgabe, doch meine E-Mail dorthin blieb unbeantwortet.«
Er umarmte sie fest. Nach einem Moment entzog sie sich ihm, aber behutsam.
» Ob du es heute Nachmittag mal früh zurückschaffst?«, fragte sie verschmitzt. » Die Mädchen haben nach der Schule Schwimmunterricht und kommen erst um fünf nach Hause.«
Endlich, dachte Joe.
Er lächelte sie unter der Baseballkappe seiner Behörde an, die er trug, bis er seinen Hut ohne Beulen zurückbekam.
» Hört sich fast wie ein unsittlicher Antrag an.«
Marybeth lächelte rätselhaft und wandte sich wieder dem Haus zu.
» Komm früh genug, dann findest du es heraus«, sagte sie über die Schulter.
Das dreigeschossige Haus aus roten Ziegeln war leicht zu finden, denn es war das einzige Gebäude in der Grand Teton Street. Erst kürzlich hatte ein Gartenbauer den Hektar Land ringsum mit Rasen, ausgewachsenen Erbsensträuchern und drei Meter hohen Espen bepflanzt. Das Gras war so frisch gesät, dass Joe jeden Grashalm ausmachen konnte. Ein Puma dagegen war nirgendwo zu entdecken.
Als er von der Straße in die Einfahrt bog, ging eins der vier Garagentore auf. Joe sah erst zwei Vliespantoffeln auftauchen, dann Pyjamabeine aus dunkelblauer Seide, sodann einen dicken beigefarbenen Bademantel aus Frottee, der eng um einen großen Bauch gebunden war, und schließlich den Rest eines großen, graubärtigen Mannes, der in der einen Hand den Garagenöffner, in der anderen eine halbautomatische Pistole hielt. Die Waffe erschreckte Joe und ließ ihn hinterm Lenkrad erstarren. Ein Arm war auf ihn gerichtet – zum Glück der mit der Fernbedienung. Maxine hatte sich erhoben und knurrte neben Joe durch die Frontscheibe.
Joe und sein Gegenüber begriffen gleichzeitig, dass es als Notwehr gelten würde, wenn Joe seine Pistole zöge und schösse. Der Hausbesitzer war bewaffnet und stand im Halbdunkel seiner Garage, und der erhobene Arm konnte als Drohgebärde missverstanden werden. Der Mann trat rasch beiseite und legte die Pistole auf seine Werkbank. Dann schüttelte er die leere Hand, als habe er etwas zu Heißes fallen lassen, und bekam kurz ein verlegenes Gesicht. Joe atmete aus und wurde sich da erst bewusst, dass er die Luft angehalten hatte. Wenn er mich hätte erschießen wollen, dachte er verdrießlich, wäre ich bereits erledigt. Joe war sich nicht mal sicher, wo sich seine Pistole befand. Im Gelände, wo fast alle, denen er begegnete, bewaffnet waren, war Joe entsprechend vorsichtig und hatte seine Waffe
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