Wilde Flucht
tanzen.
» Ich liebe es, wenn hübsche Frauen mir diese Frage stellen.«
Marybeth schüttelte den Kopf. Es passierte nicht oft, dass ein Mann so jämmerlich durchschaubar war. Sie hatte nicht den leisesten Wunsch, sich mit ihm auf eine Plauderei einzulassen.
» Die Dame im Rollstuhl – ist das Ihre Mutter?«
Er lachte in sich hinein. » Quatsch – das ist Miss Ginger.«
» Sollte ich sie kennen?«
» Es wundert mich, dass sie es nicht tun. Ich fahre sie ein-, zweimal pro Woche in die Bibliothek. Sie recherchiert irgendwas für ein Buch, das sie zu schreiben behauptet.«
Marybeth sah an ihm vorbei. Die Frau im Rollstuhl, Miss Ginger, war in dem Bereich geparkt, in dem es um die Geschichte des amerikanischen Westens ging. Sie hatte ein Buch aus dem Regal gezogen, das nun auf ihrem Schoß lag. Es war für Marybeth offensichtlich, dass die Frau an einen der Tische wollte, um darin zu lesen, aber nicht die Kraft besaß, dorthin zu fahren.
» Ich glaube, sie braucht Ihre Hilfe.«
» Die kann warten«, sagte der Mann verächtlich. » Ich heiße übrigens Buster. Ich arbeite draußen auf der V/U-Ranch für den Boss. Doch statt zu arbeiten, muss ich die da in die Stadt bringen und hier rumsitzen, während sie für ein Buch recherchiert, das sie nie vollenden wird. Ich schätze, wir waren noch nie hier, als Sie Dienst hatten.«
Marybeth ging mit einem Nicken über seinen Versuch hinweg, ihren Dienstplan zu erfahren, und tat überhaupt ihr Bestes, um sich zu beherrschen. » Sie arbeiten also für Jim Finotta?«
» Ja«, erwiderte Buster stolz.
» Dann ist sie Jim Finottas Mutter?«
» Sie ist seine Frau, verdammt«, sagte Buster lachend, » nicht seine Mom.«
Marybeth erinnerte sich, dass Joe ihr von einer alten Frau im Haus und einem dummen Rancharbeiter erzählt hatte, von dem sie nun wusste, dass er Buster hieß.
» Was hat sie denn?«, fragte sie vorsichtig.
» Davon abgesehen, dass sie eine griesgrämige alte Hexe ist?«, fragte Buster mit hochgezogenen Brauen. Er glaubt wirklich, mich zu bezaubern, dachte Marybeth erstaunt. » Sie hat das Lou-Gehrig-Syndrom, eine Nervenkrankheit mit Muskelschwund, die qualvoll zum Tod führt. Es wird immer schlimmer. Bald wird sie flach auf dem Rücken liegen und gar nichts mehr sagen können.«
» Werden Sie ihr helfen?«, fragte Marybeth leichthin.
Buster verdrehte die Augen. » Irgendwann, ja. Wenn wir hier fertig sind.«
Sie sah ihn kalt an, sagte: » Wir sind hier fertig«, ließ ihn am Tresen lehnen und ging zu der Frau im Rollstuhl.
Ginger Finottas Gesicht war verzerrt, und ihre Lippen zeugten von Unmut. Ihre Augen waren wässrig, begrüßten Marybeth aber beim Herankommen. Marybeth zog einen Stuhl vom nächsten Tisch weg und schob Ginger an den freien Platz.
» Haben Sie alles gefunden, was Sie suchen?«, fragte sie über Ginger Finottas Schulter und bemerkte die steife Frisur und die abgemagerte Nacken- und Schulterpartie, die das bedruckte Baumwollkleid mit dem hohen Kragen nicht verbergen konnte.
» Ist Buster nicht furchtbar?«, fragte Ginger Finotta mit kratziger Stimme.
» Das ist er«, pflichtete Marybeth ihr bei.
» Furchtbar ist der.«
» Mmmmh«, sagte Marybeth und umrundete den Tisch, damit sie sich ansehen konnten. Ginger Finotta brauchte einen Moment, um den Blick zu heben. Als sie es geschafft hatte, spürte Marybeth die Qual, in der sich ihr Gegenüber befand.
» Ich betreibe Nachforschungen für mein Buch.«
» So viel hat Buster mir schon zu verstehen gegeben.«
» Wie viel wissen Sie über die Geschichte Wyomings?«, fragte sie. Ihre Stimme war ungelenk, und Fragen klangen wie Aussagen.
Marybeth antwortete, sie wisse aus der Schulzeit ein wenig darüber, habe sich dann aber nicht mehr damit befasst und sei sicherlich keine Historikerin.
» Wissen Sie etwas über Tom Horn?«, fragte Ginger.
» Ein wenig, schätze ich«, erwiderte Marybeth. » Er war ein sogenannter Viehdetektiv und wurde in Cheyenne dafür gehängt, einen Vierzehnjährigen umgebracht zu haben.«
Ginger Finotta nickte fast unmerklich. » Aber er hat es nicht getan. Allerdings hat er so viele andere Übeltaten begangen, dass es egal ist, ob er den Jungen erschossen hat.«
Buster hatte den Tresen nun doch verlassen und näherte sich dem Tisch.
» Mrs. Finotta, brauchen Sie was?«, fragte er und warf Marybeth einen verschwörerischen Blick zu, über den sie hinwegsah.
» Ich will, dass Sie sich in einen anderen Teil des Gebäudes verziehen. Ich rufe Sie, wenn ich
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